Tagebuch - September 2025
Lebensschutz – aber wie?
Noch heute freue ich mich darüber, wenn ich in unserer schönen Hilgenrother Kirche ein Kind taufen darf. Dass jeder Mensch, und gerade auch der kleine Täufling, ein Gedanke Gottes ist, hebe ich bei solchen Gelegenheiten gerne hervor. Ich weiß aber als Seelsorger auch, welche Konflikte und Bedrückungen mit einer ungewollten Schwangerschaft verbunden sein können.
Gerade auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen empfinde ich die Auseinandersetzung um die Wahl neuer Richter zum Bundesverfassungsgericht und insbesondere die Diskussion um die Person Frauke Brosius-Gersdorf als bedrückend. Meine Sorge ist, dass auch in unserem Land der Einfluss der religiösen Rechten, die in Teilen mit Demokratie wenig im Sin hat, wächst. Offenkundig lassen sich auch redliche Konservative von Kampagnen, die von Rechtsaußen initiiert werden, beeindrucken. Kernfrage: dient das Alles wirklich dem Lebensschutz und ermutigt werdende Mütter zu einem „Ja“ zum Kind? Ich habe da große Zweifel. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass es tatsächlich nicht nur um Lebensschutz, sondern vor allem um die Stellung der Frau geht.
Eine Verengung des Meinungskorridors
Mittlerweile hat Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zurückgezogen. Der Grund waren deutliche Signale aus der Unionsfraktion, dass sie für eine erhebliche Anzahl der Abgeordneten aus CDU und CSU nicht wählbar sei. Seitdem ist das politische Klima in der Koalition und darüber hinaus angeschlagen. Offenkundig verkennt man, dass auch für die eigenen Kandidaten eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag gebraucht wird. Will man demnächst nur noch geschmeidige und konturlose Persönlichkeiten in das Bundesverfassungsgericht wählen? Hauptsache, sie vertreten keine Positionen, an denen irgendjemand Anstoß nehmen könnte?
„Man darf ja nicht mehr sagen, was man denkt!“ – Bis vor kurzem fand ich diesen Satz eher seltsam, weil er zumeist von Menschen geäußert wurde, die keinen Widerspruch vertragen können. Unser Grundgesetz garantiert Meinungsfreiheit. Die Grenze wir da gezogen, wo es um Holocaustleugnung oder volksverhetzenden Rassismus geht. Und natürlich darf man seine Mitmenschen auch nicht grob beleidigen oder verleumden. Gut so!
Leider musste letzteres Brosius-Gersdorf ertragen. Zweifelhafte Medien wie z.B. NIUS führten eine Kampagne gegen Brosius-Gersdorf, die durch Halbwahrheiten und offenkundige Verleumdungen gekennzeichnet war. So hat sie z.B. niemals die Ansicht vertreten, Schwangerschaftsabbrüche sollten bis zum 9. Monat möglich sein. Gewiss ist die Frage des Schwangerschaftsabbruchs hoch umstritten. Dennoch zeichnet sich bei Kräften in der Union eine Tendenz ab, nur noch Menschen für wählbar zu halten, die die eigene Parteilinie vertreten. Insbesondere bei Wahlvorgängen, bei denen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, ist dies keineswegs konstruktiv. Würden SPD, Grüne und Linke ähnlich agieren, kämen auch bei anderen Sachfragen keine Zweidrittelmehrheiten mehr zustande.
Würde der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon heute noch gewählt?
Brosius-Gersdorf war bemerkenswerterweise vom Wahlausschuss auch mit Unionsstimmen nominiert worden. Man wird davon ausgehen können, dass die Mitglieder des Wahlausschusses keineswegs schludrig gearbeitet haben, sondern dass ihnen die Positionen von Brosius-Gersdorf zum Schwangerschaftsabbruch und zu anderen später kritisierten Meinungsäußerungen bekannt gewesen sind. Der ehemalige Verfassungsrichter Dr. Helmut Simon gehörte von 1970 bis 1987 dem Bundesverfassungsgereicht an. In einem Minderheitenvotum zum Schwangerschaftsabbruch vertrat Simon gemeinsam mit zwei Richterkolleginnen 1975 im Ergebnis ganz ähnliche Positionen wie Brosius-Gersdorf. Dennoch wurde er damals in seinem Amt bestätigt. Simon, der der bekennenden Kirche nahestand, war auch jenseits seines Richteramtes vielfach engagiert. Dies betraf unter anderem sein kirchliches Engagement. So war er zwei Mal Präsident des evangelischen Kirchentages.
Als Kirchentagsteilnehmer habe ich ihn in dieser Funktion mehrfach erleben dürfen. Er gehörte zu jenen kantigen, eindrucksvollen Persönlichkeiten wie Heinrich Albertz, Kurt Scharf, Helmut Gollwitzer oder Erhard Eppler, die damals die evangelische Kirche prägten und die uns heute bitter fehlen. Simon hatte Herz und Verstand, sein Einsatz galt vor allem den Schwachen in unserer Gesellschaft.
Dass eine derartige Persönlichkeit heute vermutlich für Teile der Unionsfraktion kaum wählbar wäre, ist fatal. Es ist ein Indiz dafür, wie einige in der Union sich von der AFD treiben lassen. Hinzu kommt der unheilvolle Einfluss von sozialen Medien wie NIUS, die anscheinend bedenkenlos Sachverhalte überzeichnen und Falschmeldungen unter die Leute bringen.
Dient das alles dem Lebensschutz?
Helmut Simon ging es um nichts anderes als um die Verteidigung der Menschenwürde und des Lebensschutzes. Sein Minderheitenvotum zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 stand dem nicht entgegen, auch wenn dies von Manchen bestritten werden dürfte. Ihm ging es gemeinsam mit 2 Kollegen um die Entkriminalisierung der Frage des Schwangerschaftsabbruchs. In diesem sehr komplexen und speziellen Fall kann ein „Ja“ zum Kind nur mit Zustimmung der Frau erreicht werden, keinesfalls aber dadurch, dass man sie, die sich mutmaßlich in einer bedrückenden Notlage befindet, durch moralischen Druck oder gar durch das Strafrecht zwingt, ein Kind auszutragen.
Gerade von denen, die sich für ein schärferes Abtreibungsrecht aussprechen, wird allzu leicht übersehen, dass es da eine sozialpolitische Komponente gibt. Nachweislich erhöhen Kinder von einkommensschwachen Familien das Armutsrisiko. Dies erschwert das „Ja“ zum Kind erheblich. Wenn jetzt beim Bürgergeld kräftig gespart werden soll, sind davon natürlich auch Kinder betroffen. Kinder werden sozusagen mitsanktioniert. Auch aus meiner Sicht ist unser Sozialstaat reformbedürftig. Zu oft werden Sozialleistung nach dem Gießkannenprinzip verteilt und kommen Menschen zu Gute, die dies auf Grund ihres Vermögens gar nicht nötig haben. Ein bedenkliches Beispiel ist das „Elterngeld“: Wer gut verdient, bekommt auch mehr. Bürgergeldempfängerinnen gehen dagegen leer aus, da diese Sozialleistung als Kompensation für Einkommensverlust durch das neugeborene Kind gedacht ist und vor allem Akademikerfamilien Mut zum Kind machen soll. Dies hat im Übrigen bis heute nicht funktioniert.
Was am wenigsten hilft, Leben zu schützen, ist hartherziger Moralismus. Zwang zum Kind ist für die werdende Mutter grausam und für das so auf die Welt gekommene Kind unheilvoll. Theologische Leitlinien und moralische Maßstäbe werden so auf lieblose Weise einer Frau entgegengesetzt. Diese hätte jede Unterstützung und jede liebevolle Zuwendung nötig, um aus freien Stücken ihre Schwangerschaft zu bejahen. Mit Hilfe des Strafrechts oder durch moralischen Druck ist dies jedenfalls nicht zu erreichen.
Lieblosigkeit tötet!
Als Pfarrer und Seelsorger habe ich eine Fülle von Alltagserfahrungen gemacht, die meine Position z.B. zum Umgang mit ungewollten Schwangerschaften geprägt haben. Das folgende Szenario ist fiktiv. Es enthält aber die Essenz tatsächlicher Begebenheiten.
Es geht um eine junge Frau Anfang 20. Schon als Kind und Jugendliche hat sie unter einem vom Pietismus geprägten Elternhaus gelitten. Moralischer Druck und körperliche Gewalt gehörten zu den zweifelhaften Erziehungsmethoden. Nun wurde sie ungewollt schwanger. Die Familie des potentiellen Vaters hatte mit dem christlichen Glauben gar nichts am Hut. Von dieser Seite aus wurde sie massiv zu einem Schwangerschaftsabbruch gedrängt. Für ihre Eltern war bereits der vereheliche Geschlechtsverkehr eine Todsünde. Entsprechend vorwurfsvoll traten ihr die Eltern gegenüber. Und ein uneheliches Kind war eine „Schande“. Trotzdem war eine Abtreibung aus Sicht der Eltern völlig unmöglich. „Abtreibung ist Mord! – das war die Ansicht der Eltern. Zerrieben zwischen den Eltern des Freundes und ihren eigenen Eltern nahm sich die Frau schließlich das Leben.
Eine ähnliche Geschichte hängt mir bis heute nach. Ich war damals noch ganz am Anfang meines Berufes und hatte entsprechend wenig Erfahrung. Gegen die destruktiven Impulse im Umfeld der jungen Frau kam ich einfach nicht an. Kommt man als Seelsorger an seine Grenzen, ist es nötig, einen Klienten an professionell arbeitende Beratungsstellen zu verweisen. Doch manchmal sind die seelischen Verletzungen aus der Vergangenheit sowie die innere Verzweiflung so groß, dass Menschen wie gelähmt sind und der Alltag immer düsterer wird. Im geschilderten Fall verbarrikadierte sich die eine Familie hinter strengen moralischen Maßstäben und einer Grundhaltung, die sie für christlich hielt. Auf der anderen Seite standen ausschließlich die eigenen Interessen bzw. die des Sohnes im Vordergrund. Bei beiden Parteien fehlte es an Empathie für die junge Frau.
„ … und hätte die Liebe nicht!“ (Aus 1. Korintherbrief 13)
Es gibt einen wunderschönen Text im Neuen Testament, der oft bei Trauungen verlesen wird. Es handelt sich um das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs. Hier kommt es zu einer bemerkenswerten Gewichtung: wichtiger als alles andere ist die Liebe, die ihren Ursprung in dem Gott hat, der selbst die Liebe ist (1. Johannesbrief, 4,16b).
Jetzt verkneife ich es mir, eine längere theologische Abhandlung zu verfassen. Erzählen möchte ich lieber von meiner Großmutter väterlicherseits. Sie war eine fromme Siegerländer Pietistin, bibelfest und streng in ihren moralischen Vorstellungen. Manchmal ging sie uns mit dieser Haltung gehörig auf die Nerven. „Hohepriesterin der Familie“ wurde sie mitunter genannt. Und dennoch ist sie für mich bis heute ein Vorbild, weil sie in kritischen Situationen unglaublich viel Wärme und Empathie entwickeln konnte. Die strenge Moral blieb erhalten, rückte aber in den Hintergrund.
Ich war damals noch Student, als ich einen Besuch bei meinen Eltern machte. Im Haus der Großeltern ging die Post ab, wie ich dann hörte. Großmutter hatte eine Frau aufgenommen, die von ihrem Ehemann grün und blau geschlagen worden war. Sie versorgte die Frau und stand ihr auch als Seelsorgerin zur Seite. Die Ansage eines Geistlichen, dass die Ehe unauflöslich sei und sie Frau doch zu ihrem prügelnden Ehemann zurückkehren sollte, wehrte sie ab. Eines Tages tauchte der Mann vor dem Haus der Großeltern auf. Ich war gerade zu Besuch und hörte vom Treppenhaus heftiges Gebrüll. Ich war schon auf dem Weg nach unten, kam zur Haustür, wo ich meine fröhliche Großmutter vorfand. Im Lauschritt entfernte sich der Mann fluchtartig vom Haus meiner Großeltern. Meine zierliche Großmutter war zur Löwin geworden. Seit dieser Szene ist meine Achtung vor ihr noch einmal gestiegen.
Mir ist ziemlich klar, wie sie zur Abtreibungsfrage gestanden hätte. Es wäre ein No-Go für sie gewesen. Doch ich bin sicher, wäre sie einer 14-jährigen begegnet, die vom Onkel missbraucht worden ist mit der Folge einer ungewollten Schwangerschaft, wäre sie diesem Mädchen mit Liebe begegnet und hätte sie unterstützt, wo sie nur konnte.
Ich bin sehr einig mit der Position, die mehrheitlich in der EKD zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs vertreten wird. Brosius-Gersdorf bewegt sich nahe an diesen evangelischen Positionen. Es ist ein Schaden für unsere Demokratie und letztlich auch für das Verhältnis von katholischer und evangelischer Kirche, dass sie nun nicht mehr Verfassungsrichterin wird. Was mich allerdings am meisten bedrängt, sind die oft genug verkopften und empathielosen Diskurse zu einem Thema, dass massiv gerade den Alltag von Frauen betreffen kann. Ich hoffe, dass ich mit diesen abschließenden Sätzen keinen Widerspruch ernte. Menschen in Not brauchen jede Art der Unterstützung und Hilfe, keineswegs aber den erhobenen moralischen Zeigefinger. Dies gilt insbesondere für Frauen, die ungewollt schwanger werden.
Hans-Jürgen Volk