Tagebuch – 30. Oktober 2023

Tödlicher Antisemitismus

Es ist bedrückend. Manchmal beneide ich die Menschen im Hochmittelalter, die schlechte Nachrichten aus der Ferne kaum oder bestenfalls extrem zeitverzögert wahrnahmen. Heutzutage erhalten wir die grausigen Bilder von den Kriegsschauplätzen in der Ukraine oder jetzt in Israel und im Gazastreifen in Echtzeit geliefert.

Der Angriff auf den Süden Israels hat mich zutiefst berührt. Die männlichen Vorfahren meiner Familie haben die Nazizeit nicht unbelastet hinter sich gebracht, auch wenn sie nach meiner Einschätzung nicht direkt an verbrecherischen Aktionen beteiligt waren. Der Genozid an den Juden Europas hat mich daher bereits im Teenageralter bedrückt. Ich erkannte, dass ich einem Volk angehöre, dessen Schuld jedes Maß übersteigt. Dies ist der Grund, warum ich gar nicht anders kann, als mich mit den Israelis zu solidarisieren, die erneut einem eliminatorischen Antisemitismus, diesmal durch die Hamas, ausgesetzt sind. Die Vergangenheit verpflichtet.


Nach dem 1. Weltkrieg

Nun sehe ich alles andere als unkritisch auf die aktuelle Regierung Israels und den Westen insgesamt. Die Ursache für die tragische, nahezu unauflösbare Konfliktsituation im nahen Osten wurde von europäischen Mächten gesetzt. Bereits vor dem 1. Weltkrieg hatten Frankreich und Großbritannien weite Teile Nordafrikas unter sich aufgeteilt. Während des Krieges war das deutsche Kaiserreich mit den Osmanen verbündet, die immer noch den östlichen Mittelmeerraum, die arabische Halbinsel und das Zweistromland beherrschten. Bereits Anfang des 20. Jahrhundert gab es in Berlin eine Moschee. Deutschland war bemüht, die Moslime in den von Briten und Franzosen Kolonialgebieten zu einem Dschihad aufzustacheln. Das gelang nur mit mäßigem Erfolg. Dagegen gelang es den Briten, die Araber im Raum des Osmanischen Reiches zu einem auch militärisch wirksamen Aufstand zu motivieren. Das unterstützte man und weckte zugleich die Erwartung auf ein unabhängiges arabisches Großreich nach Kriegsende. Doch es war ein doppeltes Spiel. Bereits 1916 schlossen Briten und Franzosen im geheimen das sog. Sykes-Piket-Abkommen. Das Gebiet des heutigen Syrien sowie der Libanon wurde Frankreich zugeschlagen, Großbritannien erhielt Palästina, das heutigen Jordanien, das Zweistromland sowie Teile der Westküste des Persischen Golfs. Nach Kriegsende wurden den Arabern klar, dass sie lediglich Spielball europäischer Mächte waren. Nun mussten sie die demütigende Erfahrung einer Kolonialherrschaft machen, die im krassen Widerspruch zu den Erwartungen auf Unabhängigkeit stand, die von den Europäern geweckt worden waren.

Eine Zwischenbemerkung: es gibt kritische Anfragen gegenüber einer „wertegeleiten Außenpolitik“, der sich die aktuelle Bundesregierung verpflichtet fühlt. Insbesondere die Briten standen damals für eine sehr rationale, an den eigenen Interessen orientierten Außenpolitik, die weitgehend frei war von moralischen Bedenken und dem Bemühen, den Interessen anderer gerecht zu werden. Die schlimmen Folgen belasten bis heute den Nahostkonflikt. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die USA nach dem Zerfall des britischen Imperiums dessen Methoden der Außenpolitik fortgesetzt haben.
Daneben gab es bereits die zionistische Bewegung, die mit ihrem Anliegen zunächst auf Verständnis bei den europäischen Mächten stieß. 1917 erkannte Frankreich das Recht der Juden auf Rückkehr ins Heilige Land an. Ende 1917 gab es die Balfour-Declaration, in der die Briten das zionistische Anliegen auf eine „nationale Heimstatt“ unterstützten. Dies führt zum Grundgedanken der zionistischen Bewegung: einen eigenen jüdischen Nationalstaat zu errichten, in dem Juden in eigener Souveränität in relativer Sicherheit leben könnten, ohne Angst vor Pogromen und Vertreibungen haben zu müssen. Eine jüdische Restbevölkerung hatte es schon immer im Heiligen Land gegeben. Diese wuchs nun langsam aber stetig an. Es überwogen friedliche Methoden der Landnahme. Man kaufte Land auf oder man machte unbewirtschaftetes Land urbar. Hierbei bemühte man sich um ein friedliches Zusammenleben mit den arabischen Nachbarn, jedenfalls galt dies für die große Mehrheit der jüdischen Siedler.

Dass dieser Prozess bei den Arabern auf wenig Sympathie stieß, sondern vielmehr aggressive Gegenbewegungen auslöste, ist nachvollziehbar. Aus arabischer Sicht musste die jüdische Einwanderung als Teil einer gegen die arabischen Interessen gerichteten Kolonialpolitik erscheinen. In den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es arabische Aufstände, die sich nicht nur gegen die britische Besatzung, sondern zugleich gegen die jüdische Besiedlung richteten. Die Motivation ist verständlich: „Wie kommen die Briten dazu, den Juden unser Land zu geben?“ So die Frage, die den antikolonialen Freiheitskampf befeuerte und die sich tragischerweise in einer aggressiven Abwehr gegenüber den jüdischen Neuankömmlingen äußerte, die einfach nur in Sicherheit und Frieden leben wollten.

Der Ursprung des eliminatorischen Antisemitismus im Nahen Osten
Die Briten betrieben auch im Nahen Osten eine aus ihrer Sicht rationale und interessengeleitete Politik. So war man bemüht, dem arabischen Unmut durch Konzessionen entgegenzuwirken. Manchmal griff man mit diesem Politikansatz jedoch gewaltig daneben. So hielten die Briten es für schlau, eine gewissen Mohammed Amin al-Husseini zum Mufti von Jerusalem zu ernennen. Hoffte man hierbei auf einen vernunftgeleiteten Ansprechpartner, so entwickelte sich Husseini, der in der arabischen Welt stetig an Einfluss gewann, immer mehr zum Motor und Spiritus Rektor antisemitischer und religiös-aggressiver Bewegungen. Ende der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts kam es zur Gründung der Muslimbrüder, die unter dem Einfluss von Husseini standen. Er selbst lehnte sich immer stärker an den europäischen Antisemitismus an. Vor allem an der Judenfeindschaft der Nationalsozialisten fand er großen Gefallen. Zu Beginn des 2. Weltkrieg erschien ihm das NS-beherrschte Deutsche Reich als natürlicher Bündnispartner in dem Bemühen, sich von der britischen Besatzung zu befreien und zugleich die Juden aus Palästina zu vertreiben. Husseini wusste um den Holocaust. Er begrüßte den Massenmord an den Juden und mobilisierte seine Anhänger, sich daran zu beteiligen. „Tötet die Juden, wo immer ihr sie trefft.“ – so lautete ein mehrfach wiederholtes Mantra aus seinem Mund. In den 40-er Jahren lebte er eine Zeitlang in Deutschland, traf Hitler und andere NS-Größen persönlich und war beteiligt an dem Aufbau einer SS-Formation von Muslimen vom Balkan.

Auch nach Ende des 2. Weltkriegs hielt Husseini an einem eliminatorischen Antisemitismus fest. Er lehnte den UN-Teilungsplan entschieden ab. Er wurde zum Mentor von Jassir Arafat. Seine Ideologie ist bis heute prägend für Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah. Ebenfalls hatte er großen Einfluss auf die Ideologie der Moslembrüder, als deren Teil sich Terrororganisationen wie die Hamas sehen. Und so ist es nicht ganz korrekt, von einem importierten Antisemitismus zu sprechen. Es handelt sich vielmehr um einen Reimport. Der mörderische Antisemitismus z.B. der Hamas aber auch der Mullahs im Iran hat seine Wurzeln in NS-Deutschland. Es ist vertrautes Gift! Rechtsextreme deutsche Antisemiten vertreten nahezu die gleichen Positionen bezüglich der Juden wie die Hamas oder die Vertreter des iranischen Mullah-Regimes.


Nach der Staatsgründung 1948

Die Entwicklung seit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 präzise nachzuzeichnen, würde den Rahmen sprengen. Es lassen sich aber bestimmte Grundmuster ausmachen:

In der Regel verteidigte sich Israel gegen Angriffe von außen. Unmittelbar nach der Staatsgründung wurde Israel von den arabischen Nachbarn angegriffen und konnte sich nur mit Mühe behaupten. Im Zuge dieses Unabhängigkeitskrieges verloren ca. 750.000 Araber ihre Heimat und wurden zum Teil gewaltsam vertrieben. Was oft vergessen wird: Etwa die gleiche Anzahl jüdischer Menschen, die zuvor in verschiedenen arabischen Ländern gelebt hatten, wurden ebenfalls zu Vertriebenen, die in den neuen jüdischen Staat integriert werden mussten.

Im 6-Tage-Krieg 1967 war Israel die Macht, die die kriegerischen Auseinandersetzungen eröffnete, nachdem Ägypten die Straße von Tiran für israelische Schifffahrt geschlossen und Truppen an die Grenze zu Israel verlegt hatte. Da kann man immer darüber streiten, ob ein Präventivschlag tatsächlich eine Reaktion auf einen geplanten Angriff darstellt.

Beim Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1972 wurde Israel angegriffen und zunächst auf dem falschen Fuß erwischt. Auch bei späteren militärischen Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen oder Richtung Libanon reagierte Israel auf Attacken. Streiten kann man wiederum darüber, ob die Intensität der israelischen Reaktion in jedem Fall angemessen war.

In einem über Generationen hinweg reichenden Konflikt wird es gefährlich, wenn sich die Neigung ausbreitet, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, wobei man selber zu den Guten zählt, die über jeden Zweifel erhaben sind und die Gegenseite das abgrundtief Böse darstellt. Eine derartige Wahrnehmung hat nichts mit der Realität zu tun. Sie macht einen zum Frieden führenden Ausgleich nahezu unmöglich. Gewiss gibt es das abgrundtief Böse. Wer unterschiedslos Menschen vom Säugling bis zum Greis grausam ermordet, wie dies die Hamas-Terroristen am 7. Oktober getan haben, handelt in einem kaum zu fassenden Maße bösartig. Der Bauplan von Hamas-orientierten Palästinensern ist allerdings in seinen abgründigen Potentialen wie auch in seinen positiven Möglichkeiten relativ identisch mit dem von jüdischen Menschen. Der Unterschied besteht in unterschiedlichen Prägungen und historischen Erfahrungen, die es bei Juden wie Palästinensern in sich haben.


Es gab und gibt auch jüdischen Terrorismus

Es wäre daher eine Lebenslüge, wolle man behaupten, dass auf Seiten der Juden in Israel alles in Ordnung und moralisch über jeden Zweifel erhaben gewesen sei. Nachvollziehbar ist die Gründung der Hagana, einer Miliz, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, jüdische Einwohner in dem britischen Mandatsgebiet Palästina gegen gewaltsame Übergriffe zu schützen. Im Rahmen arabischer Aufstände gegen die britische Herrschaft war es auch zu Übergriffen gegen Juden gekommen. Zugleich richteten sich die Aktionen der Hagana ebenfalls gegen die Briten, die nicht mehr zu den in der Balfour-Declaration gegeben Zusagen standen. Von der Hagana spaltete sich Ende der 20-er Jahre die Irgun ab, die sich zunehmend als Terrororganisation gerierte. So kam es 1946 zu einem Bombenanschlag auf das King-David-Hotel in Jerusalem, das von der britischen Zivilverwaltung aber auch vom britischen Militär als Stützpunkt benutzt wurde. Dieser Anschlag forderte zahlreiche Todesopfer. Noch schlimmer war das Massaker von Deir Yasin, bei dem die Irgun gemeinsam mit der noch radikaleren Lechi wahllos zahlreiche arabische Zivilisten umbrachte. Dies geschah kurz vor der Staatsgründung Israels im April 1948. Arabische Gegengewalt war die Folge. So wurde z.B. eine Sanitätskolonne angegriffen und zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern getötet. Die Irgun organisierte sich später im Likud-Block, der weitere, eher rechtsnationale Gruppierungen umfasst. War über Jahrzehnte hinweg in der Gesellschaft Israels das Bewusstsein mehrheitsfähig, dass die Existenz Israels auf Dauer nur durch einen nachhaltigen und gerechten Frieden mit den Arabern zu sichern sei, so ist das Land heute mehr denn je gespalten. Die aktuelle Regierung unter dem höchst umstritten Benjamin Netanjahu umfasst den Likud sowie nationalreligiöse und rechtsextreme Parteien. Die Siedlerbewegung, die ebenfalls in der Regierung vertreten ist, stützt sich auf biblische Aussagen, nach denen das Land zwischen Euphrat und Nil dem jüdischen Volk von Gott zugesagt wurde. Eine Zwei-Staaten-Lösung wird von diesen Kräften seitjeher abgelehnt. Teile der Siedler verhalten sich gegenüber arabischen Nachbarn ebenfalls terroristisch. Sie terrorisieren und töten wahllos, um ihren Besitzanspruch auf von Araber besiedeltes Land zu untermauern. Extremisten auf beiden Seiten haben sich gegenseitig immer wieder in die Karten gespielt, wenn ein Friedensschluss in Aussicht stand.


Friedensfeinde

So gab es vor dem Massaker am 7. Oktober Abkommen zwischen mehreren arabischen Staaten und Israel. Saudi-Arabien stand kurz vor einem derartigen Abkommen, das auf einen Friedensschluss und die Anerkennung Israels hinausgelaufen wäre. Durch die Terroraktion der Hamas sowie die Gegenreaktion der israelischen Verteidigungskräfte ist dies alles obsolet.

Kräfte wie die Hamas wollen keinen Frieden. Sie vertreten einen eliminatorischen Antisemitismus, der uns in Deutschland nur allzu vertraut sein dürfte. Kürzlich habe ich mir die Charta der Hamas angeschaut. In frommer Sprache wird hier zum Judenmord aufgerufen. Der unsägliche Mythos einer jüdischen Weltverschwörung wird mit einem positiven Bezug auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ rezipiert. Einfach nur abstoßend!

Man kann verzweifeln. Wie soll es da zu einem Frieden kommen, der Israelis wie Palästinensern gleichermaßen gerecht wird? Auf beiden Seiten gibt es Extremisten. Die einen träumen von einem Großisrael möglichst ohne eine arabische Restbevölkerung, die anderen sprechen nicht nur dem Staat Israel das Existenzrecht ab, sondern jüdischen Menschen sogar das Recht zu leben. Bei allen Abgründigkeiten und moralischen Verwerfungen, die es auf beiden Seiten gibt, kann ich mich dennoch nur mit jüdischen Menschen solidarisieren. Es Ist für mich unerträglich, wenn Menschen einfach nur deswegen, weil sie Juden sind, wahllos attackiert oder umgebracht werden.


Nachtrag

Es kommt nicht von ungefähr, dass mein erster Tagebucheintrag den Konflikt zwischen Israel und den Arabern behandelt. Schon im frühen Teenageralter hat mich die Geschichte Israels sowie die NS-Zeit interessiert. Mich umgibt tiefe Trauer, wenn ich sehe, wie unendlich viel unser Land durch den mörderischen Antisemitismus der Nazis und den millionenfachen Mord an jüdischen Menschen verloren hat. Dass dies mit rationalem Kalkül und wohlorgansiert und geplant geschah, macht diesen Vorgang vollends unerträglich. Ich bin zutiefst dankbar für jeden jüdischen Menschen, der das Wagnis eingeht, heute wieder in Deutschland zu leben.

Diese Grundeinstellung motiviert mich auch heute, auch im Blick auf den Staat Israel und den Nahost-Konflikt. Wer Juden unterschiedslos angreift und tötet einfach nur deswegen, weil sie Juden sind, stößt bei mir auf Verachtung und Widerstand. Das gleiche gilt für Menschen, die sich bei uns manchmal sogar als links darstellen, deren Sympathie Organisationen wie der Hamas gilt und die deren Untaten tatsächlich rechtfertigen. Gleichzeitig berührt mich das Leid der arabischen Bevölkerung in der Westbank und jetzt vor allem im Gaza-Streifen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Existenz des Staates Israel auf Dauer nur durch ein gerechte Friedenlösung und einen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn zu sichern ist. Gebe Gott, dass dies in unserer Zeit noch geschieht und die Friedensfeinde nicht die Oberhand behalten.

Hans-Jürgen Volk

 

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