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Über die marktkonforme Gleichschaltung der Gesellschaft
von Hans-Jürgen Volk

Es ist schon eine Zeitlang her, dass Wolfgang Thierse vor der Metamorphose der sozialen Marktwirtschaft in eine Markgesellschaft warnte. Mittlerweile haben die gesellschaftlichen Kräfte, die unternehmerisches Denken, Wettbewerb und Konkurrenz als Allheilmittel anpreisen, an dem nicht nur das deutsche Wesen genesen soll, ihren Einfluss ausgedehnt. Am deutlichsten wird dieser bedenkliche gesellschaftliche Wandel an einer uniformen Manager- und Beratersprache, die alle denkbaren gesellschaftlichen Segmente durchdringt. Ob es die Schule, die Kindertagesstätte, das Altenpflegeheim, das Krankenhaus oder die Universität ist, man versteht sich als „Unternehmen“ ebenso, wie der Hersteller von Rasenmähern oder der Autozulieferer. Eine zunehmend verschwommene Landschaft entsteht, in der Differenzen eingeebnet und alte Identitäten geschleift werden. Selbst der einzelne Mensch wird reduziert auf seine Rolle als Markteilnehmer - Produzent oder Konsument, Kunde oder Anbieter, darin scheint sich für manche seine Daseinsberechtigung zu erschöpfen. Die Ev. Kirche gibt sich den neoliberalen Ideologen bereitwillig hin und wirkt mit an der Konstitution der Marktgesellschaft.

Wasser ist ein lebenswichtiger Stoff. Es ist erstaunlich, dass nahezu alle Lebewesen auf unserem Planeten überwiegend aus Wasser bestehen. Wasser existiert in den Böden und sogar in Felsformationen. Selbst in Wüsten ist Wasser - wenn auch in geringer Konzentration, allgegenwärtig.

Wenn uns allerdings beim Anblick des Baumes, des Vogels oder des Sees nichts anderes mehr einfallen wurde als das Substantiv „Wasser“, würden wir rasch die Orientierung verlieren. Sprache kennzeichnet Besonderheiten und Differenzen. Erst hierdurch findet man sich zurecht im Alltag. Dies ist die Grundlage einer authentischen Kommunikation. Werden diese Besonderheiten und Differenzen eingeebnet, so wird Sprache manipulativ. Der Verdacht des Autokratischen, ja sogar des Totalitären liegt in der Luft.

Gleichgeschaltete Sprache

Es ist eine geschichtliche Erfahrung, dass das gesellschaftliche Segment, das dominiert, mit der ihm eigenen Sprache in Bereiche einsickert, die mit ihm selbst ursprünglich nicht das Geringste zu tun haben. Eine vom Militär beherrschte Gesellschaft wird dazu neigen, selbst in der Pädagogik oder im Handel eine militaristische Sprache einzuführen, der alsbald die entsprechenden Methoden folgen. Dies hat bekanntlich in Deutschland Tradition.

Heute tritt dies bekannte Phänomen in einer bisher kaum da gewesenen Konsequenz auf. Ob es sich um die Arbeitsverwaltung, die Produktion von Tiefkühlpizzen, die Erziehung von Kleinkindern oder um Gebietskörperschaften handelt, überall begegnet man der gleichen Sprache. Authentische Wirtschaftssprache ist es eigentlich nicht, es ist vielmehr ein bestimmter, mit Euphemismen angereicherter Slang, der mitverantwortlich ist für die Entfremdung zwischen vielen politischen Akteuren und der Normalbevölkerung, der seit etlichen Jahren Einzug hält im öffentlichen Dienst und hier vor allem auch im Bildungswesen. Diese Sprache umkleidet sich oft mit einer Aura kühler Kompetenz und Autorität, engt damit die Räume für Lösungsansätze vor Ort ein und schwächt vor allem die Fähigkeit zu unkonventionellen Wegen jenseits des Mainstreams. Überall geht es um Effizienz, Synergieeffekte, um Qualitätsmanagement, Professionalisierung, Zielorientierung, ganzheitliche Führungskonzeptionen, nachhaltige Lösungsansätze, um Markt- und Kundenorientierung. Ständig trifft man auf diese verbalen Litfasssäulen, die eine merkwürdige Gleichförmigkeit in den unterschiedlichsten Landschaften erzeugen. Dass eine Sprache, die nicht mehr differenziert zwischen der Produktion von Rasenmähern und der Erziehung von Kleinkindern, zumindest für die letzteren wenig bekömmlich ist, wird gewiss von vielen Erzieherinnen, Vätern und Müttern empfunden, und man kann dies auch hören, wenn man sich in die Niederungen des realen Alltags begibt.

Wir haben uns fast schon daran gewöhnt, dass kirchliche Pflegedienste danach streben „moderne Dienstleistungsunternehmen“ zu sein und deswegen den Pflegebedürftigen, der sich gewiss gute Pflege wünscht, vor allem auch menschliche Zuwendung, als „Kunden“ bezeichnen. Ungewöhnlicher ist es schon, wenn der Kundenbegriff im Leitbild von Einrichtungen der evangelischen Jugendhilfe auftaucht mit dem Argument, die Kinder und Jugendlichen seien die wirtschaftliche Basis dieser Jugendheime.

Sprachlich wird so die Differenz zwischen einem Autohaus und einer Einrichtung der evangelischen Diakonie eingeebnet, wo diese um der Menschen und des diakonischen Auftrags willen betont werden müsste. Die grundfalschen Signale werden so gesendet, denn im realen Marktgeschehen ist nur der gut betuchte Kunde „König“, der Hilfsbedürftige und Mittellose wird dagegen im Zweifel aus dem Laden gejagt.

Es gab einmal Zeiten in der Bundesrepublik Deutschland, da wollten manche mehr Demokratie wagen, träumten gar von einer Demokratisierung der Wirtschaft. Stattdessen erleben wir eine Ökonomisierung der Gesellschaft, an der sich auch die evangelische Kirche trotz aller Sozialworte und kritischen Erklärungen zur Globalisierung kräftig beteiligt. Der Neigung zur Selbstsäkularisierung folgt mit großer Hingabe der scheinbar unaufhaltsame Trend zur Selbstökonomisierung.

Alles Unternehmen - oder was?

Von Vielen wurde es verständlicherweise als Fortschritt empfunden, als in den 90-ger Jahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes vermittelt wurde, die Menschen vor den Schaltern und Büroschreibtischen weniger als Bittsteller, sondern vielmehr als Kunden zu behandeln. Doch schon damals verlor der Begriff „Kunde“ an Zielgenauigkeit, als er auch auf EmpfängerInnen von Transferleistungen angewandt wurde. Manche empfanden dies als zynisch. Behörden sollten mehr wie Unternehmen geführt werden. Staatliche Betriebe wie die Post, die Bahn oder die Energiewirtschaft wurden nach privatwirtschaftlichen Methoden geführt oder gleich ganz privatisiert. „Privat vor Staat!“ war die Parole.

Entscheidend befördert wurde dieser Prozess durch Einrichtungen wie die Bertelsmann Stiftung. 1977 wurde sie von Reinhard Mohn gegründet, um Reformprozesse im Sinne unternehmerischen Handelns voranzubringen. Die Stiftung will „konkrete Beiträge zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme“ leisten. Ihrem Leitbild nach sollen „die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden“, stets nach dem Prinzip „so wenig Staat wie möglich“. Fundament der Stiftungsarbeit sei die Überzeugung, „dass Wettbewerb und bürgerschaftliches Engagement eine wesentliche Basis für gesellschaftlichen Fortschritt sind.“ (Vgl. www.bertelsmann-stiftung.de) Über das Centrum für Hochschulentwicklung und das Projekt Selbstständige Schule nimmt und nahm die Bertelsmann Stiftung massiven Einfluss auf die Bildungspolitik, über das Centrum für Krankenhaus Management auf die Gesundheitspolitik. Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft zeigt beispielhaft ein wissenschaftlicher Partner der Bertelsmann Stiftung, das Centrum für angewandte Politikforschung (CAP). Nach eigenen Angaben ist es das größte universitäre Institut der Politikberatung zu europäischen und internationalen Fragen in Deutschland. Kritisches Material über die Rolle der Bertelsmann-Stiftung bieten z.B. die Nachdenkseiten (www.nachdenkseiten.de). Sie ist jedenfalls gemeinsam mit wirtschaftsnahen Lobbyorganisationen wie der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ oder dem „Konvent für Deutschland“ der Grund für das Phänomen, dass Marktmechanismen auf alle denkbaren Lebensbereiche übertragen werden - und wenn es denn sein muss, durch deren Simulation in Form von Rankings. Nach dieser Denkweise ist alles menschliche Handeln, sofern es denn von Erfolg gekrönt ist, Unternehmen.

Bevor sich die kirchliche Kernorganisation in den Sog dieser Ideologie begab, verstanden sich bereits diakonische Einrichtungen als „Unternehmen“ und wurden nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten geleitet.

Im Leitbild der Rheinischen Gesellschaft für Innere Mission und Hilfswerk heißt es: „Die Menschen, für die wir arbeiten, sind unsere Kundinnen und Kunden, deren Wohlergehen uns am Herzen liegt.“ „ Auf ihre Wünsche und Bedürfnisse gehen wir individuell und flexibel ein. Im Dialog mit Kundinnen und Kunden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickeln wir unsere Qualität ständig weiter.“ Es wurde 1999 von der Geschäftsführung und leitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beschlossen. Ähnliche Floskeln, die genauso im Prospekt eines Anbieters von Küchenmöbeln stehen könnten, finden sich in zahllosen Leitbilder und Selbstdarstellungen von kirchlichen Krankenhäusern, Pflegediensten oder Altenheimen wieder.

„Unternehmen Mensch“

Es soll keineswegs bestritten werden, dass in diesen Einrichtungen der Diakonie mitunter segensreiche Arbeit geleistet wird. Dies gilt auch für die Stiftung Hephata, die sich in ihrem Leitbild als „Unternehmen Mensch“ definiert (zu finden unter: http://www.hephata-mg.de/files/pdf/Leitbild.pdf). Hephata engagiert sich vor allem in der Arbeit mit Behinderten und ist dort auf vielfältige Weise aktiv. Vorbildlich ist der Gedanke der „Inklusion“, den Hephata bereits recht früh konsequent vertreten hat: „Inklusion geht davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an mitten in die Gesellschaft hinein gehört und eine Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Regelkontexten gar nicht erst zugelassen wird. Mit dieser Auffassung und dem Bemühen der täglichen Umsetzung geht die Arbeit Hephatas über den klassischen Gedanken der Integration weit hinaus“, heißt es im Leitbild. Sympathisch kling auch: „Jeder Mensch kann einen Beitrag leisten.“ Dies wird wie folgt erläutert: „Alle Menschen haben Potential – auch Menschen mit Behinderungen. Sie geben unserer Gesellschaft wertvolle Erfahrungen und damit neue, auch ökonomische, Impulse.“ Hier wird die Problematik des eigenen Selbstverständnisses als „Unternehmen“, das als Anbieter von „Dienstleistungen“ für Menschen mit Behinderungen und zugleich mit ihnen am Markt bestehen will, bereits deutlich. Der „ökonomische Beitrag“ der „Kunden“ hat für das Unternehmen nur deswegen einen nennenswerten Stellenwert, da es die Transferleistungen des Sozialstaats gibt.

Dass das Selbstverständnis von Hephata ein politisch hochbrisantes Statement beinhaltet, wird besonders deutlich durch das „firmeneigene“ Magazin, Ausgabe 24 vom Juli 2010 (zugänglich auf www.hephatamagazin.de). Angedruckt ist hier ein Artikel des Betriebswirtschaftlers Prof. Dr. Urs Jäger mit dem Titel: „Diakonie vor neuen Zeiten“. Der Beitrag folgt einer simplen Logik: Zuletzt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise reduziere sich die Möglichkeit des Staates, sozialstaatliche Leistungen anzubieten, erheblich. Diakonie müsse daher nach neuen Partnern im Bereich der Wirtschaft und bei vermögenden Einzelpersonen suchen. Jäger propagiert, das Soziale in Zukunft auf der Basis von bürgerschaftlichem Engagement nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten zur organisieren. Der Beifall der Rösslers und Westerwelles der Republik wird solchen Ausführungen sicher sein. Ein kurzer Blick in die USA unserer Tage macht deutlich, wie menschenfeindlich sich ein derartiges Programm gerade auf die ökonomisch Schwächeren in einer Gesellschaft auswirkt.

Hephata vertritt im Einklang mit der Ideologie der Bertelsmannstiftung und anderer neoliberaler Lobbygruppen die gefährliche Illusion, der Verlust an Sozialstaatlichkeit könne durch privates bürgerschaftliches Engagement unter Teilnahme evangelischer Diakonie kompensiert werden. Der aktuelle politische Vorsatz, die Hartz IV-Regelsätze für Menschen mit Behinderungen, die in Wohngruppen oder in ihren Familien leben, um 25% zu kürzen, zeigt dies beispielhaft auf: Diakonie kann den hierdurch neu entstehenden materiellen Mangel bestenfalls in einigen Fällen lindern. Mag die Stiftung das Programm der „Inklusion“ in den eigenen Einrichtungen auch überzeugend vertreten, so setzt sie sich doch für ein Gesellschaftsmodell ein, das gerade die Menschen, für die man Verantwortung trägt, von wirklicher Teilhabe ausschließt.

Was ist gut für die Menschen?

- Diese Frage müsste eigentlich am Anfang jeder Überlegung stehen, mit welchem Selbstverständnis eine diakonische Einrichtung, die Kirche oder die Gesellschaft organisiert werden soll. In der neuen Marktwelt steht dagegen das Wohl des jeweiligen Unternehmens an der ersten Stelle. Im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ steht folgender Leitsatz, der dies belegt: „Nicht mehr die lange und gute Tradition einer Aufgabe ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung. Bei jeder finanziellen Unterstützung durch die EKD muss die Frage überzeugend beantwortet werden können, ob es für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausragender Bedeutung sei, diese Aufgabe fortzusetzen. Was würde der evangelischen Kirche fehlen, wenn es diese Aufgabe nicht mehr gäbe? Dieses Kriterium führt in allen Bereichen der EKD zu einer generellen Überprüfung der Aufgaben und Unterstützungen.” Nicht die Menschen mit ihren Nöten und Bedürfnissen, sondern die evangelische Kirche bzw. die Zukunft des Protestantismus werden hier zum entscheidenden Kriterium der Aufgabenkritik.
Überzeugte Neoliberale werden dem entgegenhalten, dass hier scheinbare Gegensätze aufgebaut würden. Das gesunde unternehmerische Streben nach Eigennutz würde Dank der „unsichtbaren Hand“ des Marktes schon für die maximal mögliche Wohlfahrt sorgen. Doch geglaubt wird hier an eine kapitalistische Utopie, die wenig mit der empirisch fassbaren Realität zu tun hat.

In den USA verlieren vormals gut situierte Mittelstandsfamilien ihre Wohnhäuser und landen in der Obdachlosigkeit. Menschen ohne festen Job wird die Krankenversicherung, die es dort nur aus privater Hand gibt, gekündigt. Um zu überleben, dürfen sie von nun an nicht mehr ernsthaft krank werden. Auch in Deutschland gibt es Vorboten dieser inhumanen Barbarei. Mindestens 22% aller abhängig Beschäftigten bewegen sich im Niedriglohnbereich. Sie können nicht privat für ihr Alter versorgen. Es gehört schon eine gehörige Portion Misanthropie dazu, durch die Hartz-Gesetzgebung einen breiten Niedriglohnsektor zu forcieren und gleichzeitig umlagefinanzierte Sozialsysteme zu schwächen. Altersarmut ist hier ebenso vorprogrammiert wie der soziale Abstieg, der durch Lebenskrisen hervorgerufen werden kann.

Die „Marktgesellschaft“ schafft ideale Rahmenbedingungen für ökonomisch Starke. Denn unter Marktbedingungen kann sich der Hochvermögende leisten, was sein Herz begehrt, wohingegen der Hilfsbedürftige und Notleidende auf Almosen angewiesen ist. In einer „Marktgesellschaft“ nach angelsächsischem Vorbild ufert die Neigung aus, Menschen vornehmlich nach ihrem ökonomischen Nutzwert zu beurteilen. Die aktuelle Zuwanderungsdebatte in Deutschland ist hiervon beeinflusst. Reformen im Bildungsbereich werden vorwiegend ökonomisch begründet - Bildung als Standortfaktor. Der demographische Wandel wird in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen, da die Kosten des Älterwerdens und der Pflege die „Unternehmensbilanz“ der „Deutschland-AG“ trüben.
Es ist nicht gut für die Menschen, wenn Altenheime, Krankenhäuser, Kindertagesstätten oder Finanzämter wie Unternehmen geführt werden. Ursprünglich hatten alle diese Einrichtungen eine eigene Identität: eine Schule war eine Schule. Sie hatte ihre eigene Kultur, ihre eigenen Methoden und Abläufe, die zugeschnitten waren auf das Ziel, Kinder und Jugendliche zu bilden. Nun werden Bildungseinrichtung, Pflegedienste oder Kirchengemeinden als „Unternehmen“ definiert und nach ähnlichen Methoden wie ein Röhrenwerk oder ein Reisekonzern geführt. Gleichsam einer Uniform wird den unterschiedlichsten menschlichen Tätigkeiten dieser Sammelbegriff zugewiesen.

Erinnern wir uns an die Ziele der Bertelsmann-Stiftung: „Die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung sollen in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden“, stets nach dem Prinzip „so wenig Staat wie möglich“. Sie hat ihr Gesellschaftsmodell bisher außerordentlich erfolgreich durchgesetzt.
 

 

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