Sparen kostet!

Für eine Reform der Schuldenbremse
Von Hans-Jürgen Volk

Das Gefühl, dass Sparen gut ist und Schulden böse sind, scheint bei den meisten Deutschen fast genetisch verankert zu sein. Dabei weiß jeder Hausbesitzer, dass aufgeschobene Bauerhaltungsinvestitionen z.B. in das undichte Dach die Kosten nach oben treiben. Selbstverständlich nehmen Unternehmen Kredite auf, um z.B. in neue Anlagen und Maschinen zu investieren. Wer dagegen einen Kredit aufnimmt, um eine teure Urlaubsreise zu finanzieren, der handelt höchst zweifelhaft.

Wer bestreitet ernsthaft, dass es in Deutschland in den verschiedensten Bereichen einen erheblichen Investitionsbedarf gibt. Hier nur einige Beispiele:

  • Am gefährlichsten für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist meines Erachtens die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt. Gerade in den Ballungsräumen gehen die Mieten trotz aller gesetzlichen Bemühungen stetig nach oben, wohingegen der Anteil der Sozialwohnungen seit Jahren rückläufig ist. Öffentliche Investitionen in erheblichem Ausmaß in den sozialen Wohnungsbau wären erforderlich.
  • Immer mehr entwickelt sich die marode Infrastruktur zu einem Wettbewerbsnachteil für unser Land. Tausende von Autobahnbrücken sind sanierungsbedürftig, dass Schienennetz ist eine Zumutung.
  • Trotz aller Sonntagsreden geben wir im internationalen Vergleich erstaunlich wenig für unsere Schulen und Universitäten aus. Eine Folge davon ist die hohe Zahl an Jugendlichen ohne Schulabschluss. Dabei ist längst erwiesen, dass sich jeder Euro, der in Bildung investiert wird, vielfach rechnet.

Dies sind nur Beispiele. Man könnte noch die Lücken bei der Digitalisierung anführen, die bedenkliche Kostenverteilung im Gesundheitswesen, die z.B. zur Unterfinanzierung unserer Krankenhäuser führt oder insgesamt die Vernachlässigung ländlicher Regionen. Hinzu kommt die Herausforderung durch steigende Verteidigungsausgaben, die zwar unproduktiv aber angesichts der veränderten geopolitischen Lage unausweichlich sind. Wer in einer derartigen Situation heftig auf die Schuldenbremse tritt, riskiert ökonomische Auffahrunfälle. Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen hängt eben auch von einer guten Infrastruktur, einem gut aufgestellten Bildungswesen oder einer befriedeten sozialen Situation ab. Grundsätzlich ist es im Übrigen höchst fragwürdig, in Krisensituationen hinein zu sparen.

Die Folge davon ist neben negativen Effekten für die ökonomische Entwicklung ein wachsender Unmut, der sich letztlich in politischem Extremismus äußert. Jetzt, im Sommer 2024 liegen die Umfragewerte der AFD und dem „Bündnis Sara Wagenknecht“ in Thüringen und Sachsen zusammen nahe der absoluten Mehrheit. Bei den Europa- und Kommunalwahlen vom 9. Juni 24 fuhr die AFD vielfach Rekordergebnisse ein. Eigentlich müssten spätestens jetzt bei den demokratischen Parteien alle Alarmglocken klingen. Auch zivilgesellschaftliche Kräfte wie die Kirchen müssten sich fragen, wie man dieser unsere Demokratie gefährdenden Entwicklung entgegenwirken kann. Geschichtliche Ereignisse vor Jahrzehnten sollten eigentlich Warnung genug sein.

Das Ende von Weimar und Heinrich Brüning

1928 hätte sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass Deutschland nur wenige Jahre später in eine Diktatur abrutschen würde. Bei den Reichstagswahlen im Mai wurden die Sozialdemokraten mit großem Abstand und knapp 30% stärkste Partei, gefolgt von dem Zentrum, das etwa 15 % erreichte. Die NSDAP zog mit mageren 2,6% und lediglich 12 Sitzen in den Reichstag. Dann kam es im Oktober 1929 zum New Yorker Börsencrash, der die Weltwirtschaftskrise auslöste. Nachdem der SPD-Reichskanzler Müller gestürzt worden war, fanden am 14. September 1930 Reichstagswahlen statt, bei denen die NSDAP gewaltig zulegte und mit 18,3% zweitstärkste Partei wurde. Ebenfalls Zuwächse konnten die Kommunisten verzeichnen, die 13,1% der Stimmen erhielten. Da es im neuen Reichstag verschiedene Kleinstparteien mit zum Teil extremistischer Ausrichtung gab und die Deutschnationale Volkspartei mit 7% ebenfalls zum antidemokratischen Block gerechnet werden musste, war eine Mehrheit für eine Koalition von demokratischen Parteien nicht mehr möglich. Es begann die Ära der Präsidialkabinette, die mit Notverordnungen des Reichspräsidenten Hindenburg regierten und von diesem abhängig waren. Mit der Regierungsbildung wurde der Zentrumsmann Heinrich Brüning beauftragt. Im Zentrum war der politische Katholizismus organisiert, der nach dem 2. Weltkrieg in der CDU aufging. Neben Vertretern der Zentrumspartei waren im Kabinett Mitglieder der beiden liberalen Parteien Deutsche Demokratische Partei (sozialliberal) und Deutsche Volkspartei (national- und wirtschaftsliberal) vertreten.

Deutschland war von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise besonders hart betroffen. Dies lag unter anderem daran, dass Geldgeber aus den USA ihr Kapital zurückzogen. In der Folge kam es zu mehreren Bankenzusammenbrüchen.

Das Kabinett Brüning reagierte mit einem scharfen Sparkurs auf diese Situation. Beamtengehälter, Renten und Pensionen sowie weitere Transferleistungen wurden gekürzt, öffentliche Investitionen drastisch zurückgefahren. Die Folge war eine beschleunigte Talfahrt der deutschen Wirtschaft und eine Massenarbeitslosigkeit mit stetig steigenden Zahlen. Schließlich waren mehr als 6 Mio. Deutsche arbeitslos.

Es kann kaum bestritten werden, dass die Maßnahmen des Kabinetts mit Reichskanzler Brüning das Ende der Weimarer Republik beschleunigte und dem politischen Extremismus zusätzlichen Auftrieb gab. Möglicherweise war es die traumatische Erfahrung der Hyperinflation vom Anfang der 20-er Jahre, die die verhängnisvolle Austeritätspolitik Brünings motivierte. Vielleicht wollte Brüning auch die Unfähigkeit Deutschlands dokumentieren, den im Versailler Vertrag geforderten, allerdings im Laufe der Zeit deutlich entschärften Reparationszahlungen nachzukommen. Jedenfalls war es nach gut 1,5 Jahren zu Ende mit der Kanzlerschaft Brünings. Im Juli 1932 kam es zu Reichstagswahlen, die mit einem Erdrutschsieg der NSDSAP endeten. Mit 37,3 % wurde die NSDAP mit großem Abstand stärkste Partei, gefolgt von der SPD, die nach Verlusten nur noch auf 21,6 % der Stimmen kam. Leichte Zuwächse konnte die KPD erzielen, die 14,3% der Stimmen erreichte. NSDAP und KPD hatten nun gemeinsam eine absolute Mehrheit im Reichstag und konnten jederzeit eine Regierung stürzen. Es folgten noch zwei kurzlebige Präsidialkabinette, die vor allem von der DNVP und parteilosen Konservativen aus den Reihen adliger Großagrarier getragen wurden. Im Januar 1933 wurde bekanntlich Adolf Hitler Reichskanzler. Spätestens nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 und der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, das am 24. März 1933 in Kraft trat, war der Weg in die Diktatur frei.

Nun wäre es gewiss falsch, den Sparkurs von Brüning alleine für den Aufstieg der Antidemokraten und die NS-Diktatur verantwortlich zu machen. Nicht bestritten werden kann allerdings, dass es ökonomisch und politisch ein Riesenfehler ist, in eine krisenhafte Situation hinein zu sparen. Wie man ein Land erfolgreich aus einer Krise heraussteuern kann, hat der US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit seinem „New Deal“ demonstriert.

Ein Wirtschaftswunder

Nach Ende des 2.Weltkriegs lag Deutschland am Boden. Es folgten zwei harte Winter, in denen die Bevölkerung hungern musste. Die Reichsmark hatte praktisch keinen Wert mehr. Der Schwarzmarkt blühte. Dies änderte sich durch die Währungsreform Mitte 1948 und die Einführung der D-Mark in den drei westlichen Besatzungszonen, dem Gebiet der späteren Bundesrepublik, sowie später auch in West-Berlin.
 
Mit der Währungsreform war ein Grund für den späteren Wirtschaftsaufschwung gelegt worden. Weitere Faktoren kamen entscheidend hinzu. Zum einen waren die Industrieanlagen in Deutschland nicht so zerstört, wie man es hätte nach den nahezu flächendeckenden Bombenangriffen auf deutsche Städte hätte erwarten können. Das aus dem Wirtschaftsaufschwung ein „Wirtschaftswunder“ werden konnte, war vor allem auf die Unterstützungsleistungen durch den Marshallplan zurückzuführen. In erheblichem Umfang wurde Deutschland, aber auch andere Staaten Westeuropas, mit Krediten sowie der Lieferung von Lebensmitteln und Rohstoffen geholfen. Die Hilfeleistungen waren an Bedingungen wie Freihandel sowie eine auf Geldwertstabilität abzielende Fiskalpolitik geknüpft. Erwähnenswert ist, dass z.B. Frankreich und Großbritannien eine deutlich umfangreichere Unterstützung als Deutschland durch den Marshallplan erhielten.

Die Währungsreform, immer noch erstaunlich intakte Industrieanlagen, gut ausgebildete Arbeitskräfte sowie eine erhebliche Unterstützung durch Kredite aus den USA waren die Grundlage für die positive wirtschaftliche Entwicklung der frühen Bundesrepublik. Nebenbei: hätte damals die heutige Schuldenbremse gegolten, hätte die Bundesrepublik die Kredite jedenfalls nicht im geleisteten Umfang annehmen dürfen. Auf Grund eines eindrucksvollen Wirtschaftsaufschwungs konnten die Kredite zu gut ¾ abgetragen werden, der Rest wurde erlassen.

Bedeutsam ist allerdings auch, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik damals aufgestellt war insbesondere im Blick auf das Verhältnis von Privatwirtschaft und Staat. Staatliche Investitionen legten die Grundlage für den Aufschwung und für umfangreiche private Investitionen. Zudem waren die Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie Energie, Post, Bahn, Infrastruktur, Schulen und Universitäten oder Krankenhäuser in staatlicher Hand und wurden, mit einem anderen Regulativ und einer anderen Mentalität betrieben, als Unternehmen der Privatwirtschaft. Am deutlichsten fand dies wohl Ausdruck in der Tatsache, dass Lokführer, Schaffner oder Zusteller bei der Post Beamte waren. Man kann gewiss sagen, dass der Staat damals durch regelmäßige Investitionen zugunsten der Infrastruktur und anderer Bereiche der Daseinsvorsorge die Basis für die positive wirtschaftliche Entwicklung legte.

Sand im Getriebe

Ab Mitte der 60-er Jahre gab es im Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung erste Dämpfer. Langsam aber stetig wuchs die Erkenntnis, dass die deutsche Steinkohle international immer weniger wettbewerbsfähig gefördert werden konnte. Es kam zu ersten Zechenstilllegungen. Erstmals seit Kriegsende stiegen die Arbeitslosenzahlen.

Die Ölpreiskrise Anfang der 70-er Jahre führte ebenfalls zu einer Abschwächung der wirtschaftlichen Dynamik. Schlagartig stiegen die Öl- und Benzinpreise. 1975 gab es zum ersten Mal in der Geschichte der jungen Bundesrepublik mehr als 1 Mio. Arbeitslose. Damit war allerdings der Höchststand für dieses Jahrzehnt erreicht. Die damalige sozialliberale Koalition reagierte mit verschiedenen Konjunkturprogrammen auf Wachstumsdellen. Vor allem in Infrastrukturprojekte wurde investiert. Damals war sowohl das Straßennetz wie auch die Gleisanlagen der Bahn in einem Top-Zustand. Bis weit in die 90-er Jahre hinein war die hervorragende Infrastruktur ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil für den Standort Deutschland.

Eine Herausforderung war, dass die Zahl der Arbeitslosen langsam aber stetig wuchs. Damals drängten die geburtenstarken Jahrgänge der Baby-Boomer auf den Arbeitsmarkt. Auch durch Produktivitätsfortschritte entstand der Effekt, dass mit jedem konjunkturellen Abschwung die Anzahl der Arbeitslosen wuchs. Durch Konjunkturprogramme gelang es zwar immer wieder, eine allerdings schwache positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. Dennoch stieg die Anzahl der Arbeitslosen 1981 auf ein Rekordniveau von fast 1,3 Mio. in Westdeutschland. Das Wirtschaftswachstum erreichte in den 70-er Jahren bei weitem nicht mehr das Niveau der „Wirtschaftswunderjahre“, lag mit durchschnittlich 2,9% aber immer noch in einem Bereich, der den Wohlstand der Menschen spürbar anwachsen ließ.

Ein Paradigmenwechsel

Die wenig eindrucksvollen Wirtschaftsdaten vom Anfang der 80-er Jahre, steigende Arbeitslosenzahlen sowie die internationale Konkurrenz insbesondere durch die aufstrebende Wirtschaftsmacht Japan und nicht zuletzt die Kontroversen um den sog. „Nato-Doppelbeschluss“ führten im Herbst 1982 zum Sturz der Regierung Schmidt und zum Seitenwechsel der FDP zur CDU unter Helmut Kohl. Der wirtschaftsliberale Flügel der FDP unter Führung von Graf Lambsdorff hatte sich durchgesetzt. Damals verlor die FDP bis auf bescheidene Restbestände ihren kompletten sozialliberalen Flügel.

Folgte die sozialliberale Koalition in ihrer Wirtschaftspolitik keynesianischen Vorstellungen, so kam es nun zu einer langandauernden Phase einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Nun ging es darum, die Investitionsbedingungen für Unternehmen zu verbessern, „Privat vor Staat“ lautete ein Schlachtruf jener Zeit, dessen Widerhall bis in die heutigen Tage zu vernehmen ist. Verschiedene Bereiche der Daseinsvorsorge wurden privatisiert oder bewusst einer privatwirtschaftlichen Konkurrenz ausgesetzt ausgehend von dem Glaubenssatz, dass der Markt in nahezu jeder gesellschaftlichen Lebensäußerung staatlichem Handeln überlegen ist.

Zu denken hätte geben müssen, dass die Anzahl der Arbeitslosen erheblich wuchs. 1985 waren es 2,3 Mio. Im Laufe der 80-er Jahre wurde die Marke von 2 Mio. nicht mehr unterschritten. Auch das durchschnittliche Wirtschaftswachstum lag bis zum kurzen Einheitsboom Ende der 80-er, Anfang der 90-er Jahre deutlich unter 2% und damit beachtlich unter dem der 70-er Jahre. Lediglich die Rahmenbedingungen zum Geldverdienen hatten sich verbessert, vorausgesetzt, man verfügte über das entsprechende Kapital.

Dass der Sozialstaat bis in die 90-er Jahre hinein weitgehend intakt blieb, war vor allem das Verdienst des damals noch wirkmächtigen Arbeitnehmerflügels der CDU. Demgegenüber zeichnete sich durch die Privatisierung weiter Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge ein Verlust an Lebensqualität für weite Teile der Bevölkerung ab. Setze ich vorwiegend auf den Markt als Steuerungsinstrument, geht dies unter anderem zu Lasten der ländlichen Räume. Da dort eine geringere Bevölkerungsdichte vorhanden ist, kann man auch weniger Geld verdienen. Die Lücken beim Glasfaserausbau sind hierauf zurückzuführen. Private Investoren reagieren naturgemäß eher zurückhaltend auf geringe Renditeaussichten.

Vereinigung – Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik

Ende der 80-er Jahre wäre es nicht zuletzt auf Grund der unbefriedigenden wirtschaftlichen Entwicklung fast zum Sturz der Regierung Kohl gekommen. Die „Rebellen“ gehörten überwiegend dem wirtschaftsnahen Flügel der CDU an. Dann kam es zur deutschen Einheit, gewiss ein Abenteuer, für das es keine Blaupause gab. Helmut Kohl nutzte geschickt die Gunst der Stunde und wurde zum „Kanzler der Einheit“. Bereits während der 80-er Jahre hatte man das ursprüngliche Konzept der sozialen Marktwirtschaft in eine neoliberale Richtung verschoben. Bei der Neugestaltung der Ökonomie der neuen Bundesländer verschärfte sich diese Tendenz.

Im Zuge der radikal angebotsorientierten Ökonomie durch Ronald Reagan in den USA oder Margret Thatcher in Großbritannien gewannen auch im wiedervereinigten Deutschland Kräfte die Oberhand, die von einer fast religiösen Marktgläubigkeit ergriffen waren.

Ein Instrument zur Transformation der Staatsökonomie in Ostdeutschland war die sog. „Treuhand“, die über die gesamte Unternehmenslandschaft verfügt und die den Auftrag hatte, diese zu privatisieren. Auch weil man den verheerenden Zustand der ostdeutschen Ökonomie völlig unterschätzt hatte, kam diese Strategie einem massiven Kahlschlag einhergehende mit einem gewaltigen Verlust an Arbeitsplätzen gleich.

Nun waren tatsächlich die Unternehmen, die Bausubstanz sowie die Infrastruktur in Ostdeutschland in einem insgesamt maroden Zustand. In der DDR gab es zweifellos ein hohes Maß an sozialer Sicherheit. Extrem niedrige Mieten, ein hoher Beschäftigungstand (Arbeitslosigkeit gab es so gut wie nicht) sowie beachtlich hohe Ausgaben für das Militär ließen kaum Raum für notwendige Investitionen. Der Leitsatz von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hatte sich als Irrweg erwiesen. Die Unternehmen der neuen Bundesländer hatten bestenfalls ein Drittel der Arbeitsproduktivität im Vergleich zu westdeutschen Unternehmen. Unter Marktbedingungen waren diese Unternehmen schlicht nicht konkurrenzfähig.

Da nach der Währungsunion eine Sozialunion auf den Weg gebracht wurde, entstanden allein durch die nun anfallenden Transferleistungen enorme Kosten. Dies versuchte man abzudecken durch einen Solidaritätszuschlag, also eine Steuererhöhung, durch den Fonds „Deutsche Einheit“ – nach heutigem Sprachgebrauch also einem „Sondervermögen“ -, durch das ERP-Sondervermögen und schließlich durch den sog. Erblastentilgungsfonds.

Dennoch blieb die Staatsverschuldung im Rahmen, wohingegen die Anzahl der Arbeitslosen wuchs. Deutlich erkennbar war ein Reformbedarf z.B. beim Steuerrecht sowie bei den Sozialsystemen.

Enttäuschte Hoffnungen

1998 wurde die CDU-geführte Regierung unter Helmut Kohl abgewählt und es kam zu einem rot-grünen Bündnis unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Die Hoffnung, dass es nun zu einer Reformpolitik mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensverhältnisse vor allem auch der abhängig Beschäftigten kommen würde, wurde bitter enttäuscht. Bereits durch das sog „Schröder-Blair Papier“ von 1999 konnte man erahnen, dass der Boden für eine noch konsequentere angebotsorientierte Politik bereitet werden sollte, als dies unter Helmut Kohl der Fall war. Mit der Agenda 2010 und insbesondere den Harz-Reformen wurde tatsächlich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhöht und die Anzahl der Arbeitslosen reduziert. Allerdings geschah dies zu Lasten der abhängig Beschäftigten. Insbesondere durch den Strukturwandel in der Stahlindustrie oder dem Bergbau verloren auch hochqualifizierte Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz. Nun konnte sich der 51-jährige Ingenieur mit einem Mal in einer Putzkolonne wiederfinden, denn man war gezwungen, auch Arbeitsangebote weit unterhalb seiner beruflichen Qualifikation anzunehmen. Das Ziel, die Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen, wurde nicht erreicht. In den Ballungsräumen verfestigten sich „Armutsquartiere“ nicht zuletzt durch den erfolgreichen Aufbau eines Niedriglohnsektors. Die Schere zwischen Arm und Reich ging langsam aber stetig immer weiter auseinander. Steuersenkungen, von denen vor allem die Vermögenden und Hochvermögenden profitierten, engten die Spielräume für öffentliche Investitionen ein. Tatsächlich zeigte sich vor allem unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel trotz Einbrüchen wie der Finanzmarktkrise von 2008 und 2009 eine positive wirtschaftliche Entwicklung, die auch mit einer Reduktion der Arbeitslosenzahlen einherging. Während der 90-er Jahre und davor gab es allerdings kaum so etwas wie „Tafeln“ in Deutschland. Dies änderte sich, bis nahezu in jeder deutschen Kleinstadt diese Form der privat initiierten „Armenspeisung“ auf die Defizite des Sozialstaates hinwies.

Es ist schon bemerkenswert, dass ausgerechnet Anfang 2009 die restriktive deutsche Schuldenbremse in Kraft gesetzt wurde. Eine Kreditaufnahme von lediglich 0,3% des Bruttosozialprodukts ist danach statthaft, wohingegen die EU eine Neuverschuldung in Höhe von 3 % des Bruttosozialprodukts zulässt. Das Ganze erhielt auch noch Verfassungsrang.

Angriff auf den sozialen Frieden und die Wettbewerbsfähigkeit

Es scheint eine Eigenart marktradikaler Ideologie zu sein, dass man sich gerne in selbstgestrickten Zahlenwerken aufhält und andere Faktoren ausblendet. CDU und FDP bewegen sich mit ihrer fiskalischen Strenge in Krisenzeiten auf ähnlichen Pfaden wie ihre Vorgänger während der Kanzlerschaft von Heinrich Brüning in der Endphase der Weimarer Republik. Ihr striktes Eintreten für Einsparungen in Krisenzeiten verursacht erkennbar Schäden in der Wirtschaft und bezogen auf den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Gut, man investiert ein wenig, aber auch nicht annähernd ausreichend, um den durch fiskalischen Geiz verursachten Investitionsstau der Vergangenheit zu beheben.
 
Nun gibt es Argumente für die strikte Form der Schuldbremse made in germany. Verpflichtend ist das Bedienen von Zinslasten, die durch Kreditaufnahme entstehen. Auch hierdurch können, je nach Umfang der Neuverschuldung, die Spielräume im Staatshaushalt erheblich reduziert werden. Steigt die Schuldenlast, besteht die Gefahr, dass auch die Zinssätze nach oben gehen. Gute Gründe für einen disziplinierten Umgang mit Haushaltsmitteln gibt es also.

Dennoch geht diese Argumentation ins Leere, wenn die getätigten Investitionen noch nicht einmal ausreichend sind, um die Substanz zu erhalten. Verschiebt man nötige Investitionen oder kommt man ihnen nur unzureichend nach, generiert man damit faktisch Verbindlichkeiten für die Zukunft. Es handelt sich streng genommen um Schulden, die nachfolgende Generationen samt einer maroden Infrastruktur und einer bedrohlichen Klimakrise erben werden, wenn nicht konsequent gegengesteuert wird.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Seit einiger Zeit haben die USA den sog. inflation reduction act auf den Weg gebracht: ein massives Investitionsprogramm, das die ökologische Transformation der US-Wirtschaft voranbringen soll und teilweise protektionistische Züge trägt. Der systemische Rivale China agiert mit seinen Staatsunternehmen strategisch. Unternehmen der IT-Branche oder der Solarindustrie sind hochsubventioniert. Hält man da nicht ansatzweise dagegen, provoziert man eine Situation, in der wichtige Industriezweige in Deutschland bald nicht mehr existent sind. Eine Ideologie, die auch in einem solchen Umfeld den Markt für ein Allheilmittel hält, provoziert die Deindustrialisierung unseres Landes gerade im Blick auf wichtige Zukunftsbranchen.

Schon jetzt hat das engstirnige Beharren auf der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form Schäden angerichtet. Ein Beispiel ist das Streichen der Subventionen auf den Agrardiesel, das vor einiger Zeit zu der Revolte der Landwirte geführt hat. Subventionsabbau hört sich erst einmal gut an. Wenn allerdings der Landwirtschaft, die wie andere Branchen auch unter einem ebenfalls kostenträchtigen Bürokratieaufwand leidet, schlagartig weitere Kosten aufgebürdet werden, geben Betriebe auf. Ähnlich ist die Problemlage bei der Gastronomie, die nach den existenzbedrohenden Corona-Jahren wieder mit dem erhöhten Mehrwertsteuersatz von 19% konfrontiert wurde. Eigentlich müsste jedem rational denkenden Menschen klar sein, dass Betriebe, die aufgeben müssen, auch keine Steuern zahlen. Dann kürzt man die Zuschüsse für E-Autos mit der Folge, dass die hochsubventionierten chinesischen Marken Land gewinnen und der Absatz von E-Automobilen insgesamt rückläufig ist. Man kürzt bei der Entwicklungshilfe und vergisst offenbar die Rede von der Bekämpfung von Fluchtursachen. Wirklich schlau ist dies alles nicht. Das krampfhafte Festhalten an der Schuldenbremse in ihrer bisherigen Form ist vielmehr ein gewaltiges Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland und den sozialen Frieden.

Auf Grund der Tatsache, dass in der Vergangenheit nötige Investitionen in unzulänglichem Umfang stattgefunden haben, besteht ein erhöhter Finanzbedarf im Bildungsbereich, beim Wohnungsbau, bei der Infrastruktur oder in ganz erheblichem Ausmaß bei der Bundeswehr. Die finanziellen Lücken vorrangig durch Kürzungen bei den Sozialausgaben schließen zu wollen, würde den sozialen Frieden ernsthaft gefährden und politischen Extremismus fördern.

Auf ein Sonderproblem sei an dieser Stelle kurz hingewiesen: Unser Gesundheitssystem gehört gewiss noch zu den leistungsfähigeren auch unter den Systemen der entwickelten Industrienationen. Von einer Unterfinanzierung kann man insgesamt wohl kaum sprechen. Allerdings gib t es Fehlsteuerungen, die zu einer Unterfinanzierung vieler Krankenhäuser geführt haben. Auch der normale Hausarzt und mancher Facharzt gehört mittlerweile kaum mehr zu den Spitzenverdienern in unserem Land. Ein Grundübel ist das System der Fallpauschalen. Es gibt privatwirtschaftlich geführte Gesundheitskonzerne, die vor allem lukrative Eingriffe vornehmen und dies vorzugsweise an privat Versicherten. Hierdurch werden hohe Renditen erwirtschaftet. Finanzinvestoren kaufen mittlerweile Arztpraxen. Renditen bis zu 20% sollen angeblich zu erwarten sein. Auch hier wird eine gemeinwohlschädigende Rosinenpickerei zu Lasten der redlichen Akteure im Gesundheitswesen betrieben. Mit der Einführung einer Bürgerversicherung und der konsequenten Abkehr vom Fallpauschalensystem wäre dieser Fehlentwicklung zu begegnen.

Ein Grundübel ist die irrige Vorstellung, durch privatwirtschaftliche Methoden sowie die Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen im Bereich der Daseinsvorsorge könne man Effizienzgewinne erzielen und Finanzmittel einsparen. Das Gegenteil ist der Fall. Man verbessert lediglich die Möglichkeiten kapitalkräftiger Akteure zum Geldverdienen.

Eine Reform ist nötig

Verbindliche Regeln für die Kreditaufnahme bei öffentlichen Haushalten sind gewiss auch in Zukunft geboten. Aber die jetzige Regelung geht deutlich über die EU-Vorgaben hinaus. Es handelt sich um eine Selbstfesselung der Politik, die dem bürokratischen Geist entspricht, unter dem unser Gemeinwesen leidet. Man wird gezwungen, das Vorgeschriebene zu tun, auch wenn die Auswirkungen erkennbar schädlich sind.

Investitionen z.B. in unsere Infrastruktur, in die Bildung oder in den sozialen Wohnungsbau müssen auch in erheblichem Umfang möglich sein. Dies gilt umso mehr für Investitionen, die nachweislich geeignet sind, unsere Wirtschaftskraft zu steigern.

Anlass für die Einführung der Schuldenbremse war die Finanzmarktkrise 2007/2008 sowie die nachfolgende Eurokrise. Überschuldete Länder wie Griechenland oder Italien mussten extrem hohe Zinsen bedienen, was den gesamten Euroraum in eine Schieflage brachte. Um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, erhielt die Schuldenbremse sogar Verfassungsrang.

Tatsächlich stieg die Staatsschuldenquote in Folge der Maßnahmen, die zur Absicherung der wirtschaftlichen Entwicklung im Anschluss an die Finanzmarktkrise getätigt worden waren, auf 82,5% im Jahr 2010. Seitdem bewegte sie sich zwischen 60 und 70%. 2022 lag sie bei 66,4% - trotz Corona-Krise und des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Praktisch alle wichtigen Industrienationen haben eine teilweise deutlich höhere Staatsverschuldung als Deutschland. Spitzenreiter ist Japan mit 261 % des Bruttosozialprodukts. Die USA sind belastet mit einer Staatsschuldenquote von 122%. Bei Frankreich sind es 111%, Kanada hat eine Staatsschuldenquote von107%. Großbritannien, dass etliche Jahre einem harten Sparkurs der Konservativen ausgesetzt war und die negativen Folgen des Brexit verkraften musste, hat eine Staatsschuldenquote von 103%. Diese Zahlen, die den Stand aus dem Jahr 2022 wiedergeben, machen deutlich, dass Deutschland durchaus Spielraum für höhere Investitionen in seine Infrastruktur, den Wohnungsbau oder das Bildungswesen hätte. Durch die Selbstfesselung der gestrengen deutschen Schuldenbremse ist es jedoch nicht möglich, das Richtige zu tun. Es ist höchste Zeit, diesem destruktiven bürokratischen Geist – „Vorschrift ist Vorschrift“ – entgegenzuwirken, die Schuldenbremse auf vernünftige Weise zu reformieren und der Politik wieder den Freiraum zu geben, das Nötige und Richtige zu tun.

Schauen wir noch einmal in die Welt der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die neoklassische Ökonomie, die das freie Spiel der Kräfte möglichst ohne jede staatliche Einflussnahme propagiert hatte, war durch die Weltwirtschaftskrise Ende der 20-er und Anfang der 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts krachend gescheitert. Eine konstruktive Antwort schienen die ökonomischen Theorien eines John Maynard Keynes zu geben. Sie waren handlungsleitend für den New Deal des damaligen Präsidenten der USA Franklin D. Roosevelt sowie für die Finanzmarktordnung der Nachkriegszeit. Auch das Konzept der sozialen Marktwirtschaft war nicht unbeeinflusst von Konzepten von Keynes.

Bedeutsamer aber noch war die Statik der frühen Bundesrepublik mit ihrem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Sein Buch „Wohlstand für alle“ ist in weiten Teilen auch heute noch aktuell und lesenswert, wobei Erhard eher ein Pragmatiker als ein Theoretiker war. Dass die Bereiche der Daseinsvorsorge damals angefangen von der Energiewirtschaft über Post und Bahn, aber auch bei Krankenhäusern oder Bildungseinrichtungen weitgehend in öffentlicher Hand waren, wurde von ihm nicht in Frage gestellt. Er plädierte selbstverständlich für Geldwertstabilität, für einen freien aber fairen Wettbewerb und ein scharfes Kartellrecht. Er anerkannte die Rolle der Gewerkschaft sowie der Tarifautonomie, betonte allerdings, dass sich die Lohnerhöhungen an den Produktivitätszuwächsen zu orientieren hätten. Seine Zielsetzung, durch eine gute Wirtschaftspolitik den „Sozialstaat überflüssig“ zu machen, beschrieb eine interessante Vision: durch Vollbeschäftigung und die Teilhabe aller gesellschaftlichen Schichten am wachsenden Wohlstand sollte dies umgesetzt werden.

Fest steht jedenfalls: wäre die frühe Bundesrepublik alleine auf die anfangs spärlich fließenden Steuereinnahmen angewiesen gewesen, hätte es die nötigen Investitionen in den Wiederaufbau eines durch den Krieg verwüsteten Landes niemals im ausreichenden Maß gegeben und damit hätte auch kein „Wirtschaftswunder“ stattgefunden. Das nötige Kapital wurde vor allem durch Kredite des Marshal-Plans bereitgestellt. Erst hierdurch erfolgte eine Anschubfinanzierung, die einen eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufschwung möglich machte. Naturgemäß stiegen hierdurch die Steuereinnahmen in erheblichem Umfang, sodass nicht nur Kredite bedient, sondern Schulden sogar abgetragen werden konnten. Damals wurde der Beleg erbracht, dass Kredite für Investitionen, die die Wirtschaft stärken, letztlich die Grundlage finanzpolitischer Solidität sind. Die Schuldenbremse in ihrer heutigen Form schwächt dagegen den Wirtschaftsstandort Deutschland, da sie nötige Investitionen blockiert.

 

 

Mobile Menu