Die Decke ist zu kurz!

Erfahrungen mit unserem Gesundheitssystem
Von Hans-Jürgen Volk

Vorangestellt sei, dass ich froh bin in Deutschland zu leben und nicht in Großbritannien oder in den USA. In beiden Ländern gibt es zwar Medizin auf hohem Niveau. Die kommt jedoch vor allem den Vermögenden zu Gute. Armut ist in diesen Ländern mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden.

Dennoch mache ich mir Sorgen. Seit den 90-er Jahren dominiert das Streben nach Effizienz und Wirtschaftlichkeit die Entscheidungen über die Gestaltung unseres Gesundheitswesens. Spätestens seit der Einführung des Fallpauschalensystems gibt es erkennbar Fehlentwicklungen.

Nun fehlt mir die Kompetenz, mich in die komplexe Diskussion um die Neugestaltung unseres Gesundheitssystems gerade im Blick auf die Kranken einzubringen. Ich habe jedoch durch zahlreiche Besuche als Pfarrer und Seelsorger in etlichen Kliniken Erfahrungen gemacht. Und ich bin der Ansicht, dass derartige Erfahrungen im politischen Diskurs zumindest wahrgenommen werden sollten. Beneiden tue ich niemanden, der in der jetzigen Situation nach den fiskalischen Einbrüchen durch die Corona-Pandemie und angesichts struktureller Probleme Verantwortung für unsere Krankenhauslandschaft trägt. Auch die Reform Lauterbachs, die ja angeblich den finanziellen Druck gerade von Kliniken im ländlichen Raum nehmen soll, ist ja erst in Umrissen erkennbar und mit ihren Vorgaben alles andere als valide. Hier Entscheidungen zu treffen, die zumindest für etliche Jahre tragfähig sind, ist ein Abenteuer.

Überlastete Kliniken – zu wenig Betten

Ich leite die Sitzung des Finanzausschusses unseres Kirchenkreises. Da klingelt mein Handy. Ich entschuldige mich und nehme den Anruf an. Zuvor hatte mich bereits die Nachricht von einem Gemeindeglied erreicht, das einen Herzinfarkt erlitten hatte. Eine Angehörige bittet mich, zu ihrem Vater zu kommen. Der läge im Hachenburger Krankenhaus und es gehe ihm ganz schlecht. Vermutlich hätte er nicht mehr lange zu leben. Ich merke, dass da nicht viel Zeit bleibt und breche sofort nach Hachenburg auf. Die Leitung der Sitzung übernimmt mein Stellvertreter. Als ich das Krankenzimmer betrete, sehe ich einen Mann Mitte 70 vor mir, der im Sterben liegt. Die Familie steht um das Krankenbett. Ich spreche kurz mit ihm, lese ein Psalmwort, bete und segne ihn. Nach einiger Zeit verabschiede ich mich. Mit mir gehen die Tochter und der Enkel nach draußen. Jetzt wird mir endgültig klar, dass die gedrückte Stimmung im Krankenzimmer nicht nur auf den Zustand des Vaters und Großvaters zurückzuführen ist. Verbittert berichten mir die beiden, dass der Mann eine regelrechte Odyssee im Rettungshubschrauber hinter sich hat. Da im näheren Umkreis kein Krankenhausbett frei war, sei man bis an den Rhein geflogen, um dann nach einem lebensverkürzenden Zeitverlust schließlich in Hachenburg zu landen. Noch in der Nacht verstarb der Mann. Ich habe ihn dann etliche Tage später beerdigt.

Das Ganze spielte sich in einem schneereichen Winter vor mehr als 10 Jahren ab, als eine winterliche Witterung für zahlreiche Knochenbrüche ursächlich war und sich das Ganze auch noch mit einer Grippewelle verknüpfte. In einer derartigen Situation sind Kliniken überlastet. Es gibt dann erkennbar zu wenige Krankenhausbetten. Ähnliches haben wir in verschärfter Form während der Corona-Pandemie erlebt.

Was ich berichtet habe, ist kein Einzelfall. Vermutlich hätte der Mann bei einer zeitnahen Einweisung in eine Klinik seinen Herzinfarkt überlebt. Mit Bestimmtheit kann dies der medizinische Laie natürlich nicht beurteilen. Ich habe etliche Situationen erlebt, die ähnlich wenngleich auch nicht so eindeutig waren.

Ich habe die starke Vermutung, dass ein derartiger Missstand auf den finalen Einfluss von Controllern und Betriebswirten zurückzuführen ist, die mit ihrem Streben nach Effizienz auch heute noch den medizinischen Sachverstand im Zweifel überstimmen. Man stellt dann fest, dass im Frühsommer bei angenehmen Temperaturen und stabiler Hochdruckwetterlage viele Krankenhausbetten nicht belegt sind. Also macht man sich daran, „Überkapazitäten“ abzubauen. Trifft dann der Eisregen auf die Grippewelle oder gar auf eine pandemische Situation ist die Decke viel zu kurz. Das Befremdliche ist, dass diese Erfahrungen weitgehend folgenlos bleiben und Einige immer noch mit Eifer Betten abbauen und Kliniken schließen wollen.

Verschwendung von Ressourcen

Als Pfarrer aus Eichelhardt war ich häufig im Altenkirchener Krankenhaus tätig. In den vergangenen Jahren wurde da vermutlich mit Millionenbeträgen umgebaut und renoviert. Jetzt steht da ein voll funktionsfähiges Krankenhaus, dass einen ansprechenden Eindruck macht. Mache ich eine gesamtgesellschaftliche Bilanz auf, ist es da tatsächlich wirtschaftlich, den Standort bis auf Restbestände aufzugeben? Es wäre doch das Eingeständnis, jede Menge Geld versenkt zu haben.

Sind die Spezialisierung und der Konzentrationsprozess, den einige noch erheblich verschärfen wollen, wirklich sinnvoll und wirtschaftlich vernünftig? Ich bin in Betzdorf aufgewachsen. In meiner Kindheit und Jugend gab es dort 3 Krankenhäuser: Das Kreiskrankenhaus in Kirchen, ein evangelisches Krankenhaus ebenfalls in Kirchen und ein Krankenhaus in Betzdorf in kommunaler Trägerschaft. Es mag aus medizinischer Sicht viel für eine Spezialisierung mit hohen Fallzahlen sprechen. Favorit in meiner Familie war allerdings das kleine evangelische Krankenhaus in Kirchen. Die Ärzte dort hatten einen hervorragenden Ruf. Die Atmosphäre in dem kleinen Haus mit maximal 30-40 Betten war familiär und freundlich. Zusätzlich gab es ehren- und hauptamtliche Betreuung und Seelsorge durch die Kirchengemeinde. Wir waren traurig, als dieses Haus schließen musste. Auch hier gilt: wenn Häuser schließen müssen, in die zum Teil vorab kräftig investiert wurde, ist dies eine bedenkliche Verschwendung von Ressourcen.

Und alleine im Landkreis Altenkirchen sind etliche Häuser geschlossen oder in ihrer Funktion umgewidmet worden. Als ich im Jahr 2000 meinen Dienst in Eichelhardt antrat, befanden sich die meisten meiner Gemeindeglieder im Altenkirchener Krankenhaus. Dies erleichterte nicht nur meine Arbeit, sondern war auch für die Angehörigen der Patienten günstig. Im Laufe der Jahre änderte sich dies erheblich. Von Waldbröl bis Selters, von Kirchen bis Neuwied war ich unterwegs, da bereits in den vergangenen Jahren eine Spezialisierung bei den Krankenhäusern stattfand. Heute fährt die Ehefrau, wenn sie ihren krebskranken Mann besuchen will, unter Umständen täglich aus unserer Region bis Bonn oder Siegen. Bei Kindern und Enkeln ist die Besuchsfrequenz geringer. Es wird allerdings durch diese Situation eine gewaltige Flut an Mobilität mit dem entsprechenden, im Zweifel umweltschädlichen Ressourcenverbrauch erzeugt. Wenn man schon eine Mobilitätswende propagiert, sollte man diese, aus medizinischer Sicht gewiss unerhebliche, Tatsache mitbedenken. Und natürlich geschieht dies mit Automobilen, die überwiegend mit Verbrennern ausgestattet sind. Versuchen Sie mal, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Kundert nach Koblenz zu kommen! Nicht zuletzt geht bei den besuchenden Angehörigen jede Menge Zeit drauf, wenn man z.B. auf dem Weg in eine Klinik im Bonner Raum auf der B8 in Uckerath eine halbe Stunde im Stau steht und auch sonst lediglich mit der Geschwindigkeit eines Traktors vorankommt. Am Freitag-Nachmittag kann es sogar noch aufreibender sein.

Nicht nur für das Gesundheitswesen gilt: die Preisgabe von Standorten in Verbindung mit Konzentrationsprozessen erzeugt zusätzliche Mobilität, was bei den Verhältnissen im nördlichen Westerwald zwangsläufig zu erhöhten CO²-Emissionen führt.

Und was ist mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

Bei meinen Krankenhausbesuchen habe ich mich öfters mit Ärzten und Pflegekräften unterhalten. Überwiegend bin ich Menschen begegnet, die mit einem bewundernswerten Engagement und oftmals bemerkenswertem Einfühlungsvermögen den Patienten gegenüber agiert haben. Das galt selbst in Drucksituationen. Außerdem merkte ich bei diesen Gesprächen, wie sehr sich die meisten mit ihrer Klinik identifizierten.

Während der Corona-Pandemie wurde der Druck nahezu unerträglich. Die meisten Kliniken waren am Limit, oftmals war die Schmerzgrenze gerade bei denen, die auf den Intensivstationen eingesetzt waren, deutlich überschritten. Ich habe größten Respekt vor denen, die in dieser Zeit für die Patienten da waren. Und ich bin Menschen begegnet, die an ihrer Aufgabe am verzweifeln waren und die an die Aufgabe ihres Berufes dachten.

Bereits vor der Pandemie war der Druck für manche Pflegekräfte und Ärzte oft unerträglich, da allzu oft nicht der Mensch, sondern die Bilanz im Mittelpunkt der Gedanken der Klinikleitungen stand. Eine nahe Verwandte von mir machte hochmotiviert eine Ausbildung zur Krankenschwester. Danach arbeitete sie in zwei Kliniken. Heute studiert sie Sozialwissenschaften, weil sie die Dominanz des Ökonomischen im Gesundheitswesen nicht mehr ertragen konnte. Fest steht für mich, dass man vielfach alles andere als sorgsam mit der Ressource Mensch umgeht – um das unsägliche Wort vom „Humankapital“ zu vermeiden. Was hat es noch mit Respekt zu tun, wenn Beschäftigte z.B. im Altenkirchener Krankenhaus, nachdem sie vor allem während der Corona-Pandemie ihr Äußerstes gegeben haben, von Entlassung bedroht sind. Attraktiver macht das die medizinischen Berufe wohl kaum. Und Altenkirchen ist ja kein Einzelfall.

Kirchturmdenken überwinden!

Es gibt eine besondere Art einer schädlichen „Kirchturmpolitik“, die in der Tat überwunden werden muss. Ich nenne dies auch den „betriebswirtschaftlichen Tunnelblick“. Was da zählt, sind Fallzahlen und Bilanzen. Alles andere wird konsequent ausgeblendet. Was bedeutet es z.B. strukturpolitisch, wenn das Altenkirchener Haus mit einer großen Anzahl an Beschäftigten weitgehend abgewickelt wird? Bei all den Überlegungen im Gesundheitsbereich kann es nicht nur um die wirtschaftliche Situation einzelner Häuser gehen. Nötig ist eine gesamtgesellschaftliche Bilanz, die im Blick auf soziale Aspekte, Ökologie oder Strukturpolitik bisher negativ ausfällt. Die Neigung Standorte aufzugeben und Konzentrationsprozesse voranzutreiben hat wohl kaum die Lebensqualität der Menschen in unserer Region erhöht. Das Gegenteil ist der Fall.

Besonders bizarr ist es dann, wenn exponierte Politiker diejenigen, die sich um ihren Arbeitsplatz sorgen und die sich für die Menschen in ihrer Region einsetzen, als Kirchturmpolitiker denunzieren. Dabei wird von dem gleichen Personenkreis sehr energisch und konsequent Politik für diejenigen gemacht, die in Sichtweite der Hachenburger Kirchtürme leben. Im Gegensatz dazu benötigen wir eine Gesundheitspolitik, die sich von der fiskalischen Dominanz löst und umfassend die gesellschaftlichen Auswirkungen eigener Entscheidungen in ihrer ganzen Breite in den Blick nimmt.

 

 

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