Es steht nicht gut um die Kirche

Mehr „evangelische Freiheit“ als Ausweg!

Von Hans-Jürgen Volk

Im Jahr 2022 traten ca. 380.000 Menschen aus der ev. Kirche aus. Ein Jahr zuvor waren es 280.000, was immer noch erschreckend hoch ist. Bei der katholischen Kirche gab es einen vor Jahren noch unvorstellbaren Rekord von mehr als einer halben Millionen Kirchenaustritten. Nach einer Umfrage, deren Ergebnisse auf Kirchenaustritt.de dokumentiert sind, gibt es hierfür folgende Gründe: Lediglich 11,8% gaben an, nicht mehr an Gott zu glauben, 28,7% wollten sich die Kirchensteuer sparen und eine beachtliche Mehrheit von 55,5% war unzufrieden mit der Kirche. Nun mag man darüber streiten, ob eine derartige Umfrage auf einer kirchenkritischen Homepage repräsentativ ist. Immerhin nahmen 47.634 Menschen daran teil. Das Ergebnis jedenfalls deckt sich mit meinen persönlichen Erfahrungen. Ein Großteil derer, die aus der evangelischen Kirche austreten, sind frustriert und reagieren auf protestantische Art nach dem Motto: „Dann macht doch euren Mist alleine!“ In meinen Gottesdiensten treffe ich zunehmend auf Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, die sich aber nach wie vor als evangelische Christen verstehen. Die Quelle der Frustration ist neben anderen Motiven die Tatsache, dass dieser Personenkreis in den vergangenen Jahren auf Grund einer günstigen Einkommensentwicklung immer höhere Beträge an Kirchensteuern entrichten musste, davon vor Ort aber immer weniger hatte. Pfarrstellen wurden abgebaut, Gemeinden zusammengelegt und sogar bei der Jugendarbeit gab es Kürzungen. Ein Presbyteriumsmitglied aus einer Nachbargemeinde sagte mir kürzlich: „Wir haben immer mehr Aufgaben und immer weniger zu entscheiden.“ Frust auch hier. Er überlege sich sehr, ob er bei den kommenden Presbyteriumswahlen noch mal antreten wird.

Aus für die Ortsgemeinde?

„Es geht nur exemplarisch Warum die traditionelle Ortsgemeinde keine Zukunft hat“ So lautet der Titel eines Beitrags der Theologin Uta Pohl-Patalong in der Zeitschrift Zeitzeichen, 5/2013 S. 8-11. Darin beschreibt sie weitgehend realitätsnah den kritischen Zustand der evangelischen Kirche. Bei der Analyse der Ursachen wirkt ihr Beitrag jedoch einseitig und fragmentarisch. Das Festhalten an der Ortsgemeinde, die mit ihren Angeboten lediglich die Minderheit des kirchennahen Kernmilieus erreichen würde, scheint nach ihrer Auffassung der wesentliche Grund für die kirchliche Misere zu sein. Um diese zu überwinden, verweist sie auf Rezepte, die sie seit Jahrzehnten vertritt und die spätestens seit dem EKD-Papier „Kirche der Freiheit“ aus dem Jahr 2006 mehr oder weniger stringent umgesetzt werden. In ihrem Artikel empfiehlt sie lediglich eine gesteigerte Dosis der falschen Medikation.
So hält sie es für geboten, exemplarisch zu arbeiten und von der Vorstellung, einer flächendeckenden Versorgung mit kirchlichen Angeboten Abschied zu nehmen. Was dann allerdings von ihr vorgeschlagen wird, ist nicht wirklich neu. Ausgebaut werden die seit 2 Jahrzehnten gepflegten Pfade, die bereits in „Kirche der Freiheit“ angelegt waren: noch konsequenter als bisher sollen kirchliche Dienste und Angebote auf Kirchenkreis- bzw. Dekanatsebene geregelt werden. Dies gilt insbesondere für den Pfarrdienst, darüber hinaus aber auch für andere Berufsgruppen. Ziel ist eine größere Spezialisierung mit dem Ziel der Qualitätssteigerung. „Spezialisten“ statt der bisherigen Generalisten sollen in Zukunft die kirchlichen Arbeitsfelder abdecken. Die alte Idee vom „Teampfarramt“, die sich in der Vergangenheit als wenig praktikabel erwiesen hat, schimmert hier durch. Ebenfalls mit wenig messbaren Erfolgen hat die EKHN mit „Profilpfarrstellen“ experimentiert. Neu an den Vorschlägen von Pohl-Patalong ist lediglich, dass die Kirchengemeinden offenbar in den Kirchenkreisen aufgehen sollen. Dies ist in der Tat noch einmal ein radikaler Schritt auf alten Pfaden, die sich bisher als Sackgassen erwiesen haben. Bei einer derartigen Umstrukturierung dürfte ein gewaltiger Aufwand an Gremienarbeit zu erwarten sein, zumal Pohl-Patalong bisher autonome kirchlichen Einrichtungen (z.B. Akademien, Pflegeheime, Schulen oder Krankenhäuser) in diesen Prozess mit einbeziehen möchte.


„Du sollst deine Mitglieder nicht frustrieren!“

Dieses Gebot müsste in Großdruck im Büro eines jeden Oberkirchenrats, jeder Bischöfin oder jedes Superintendenten hängen. Pohl-Patalong hält eine derartige Frustration offenkundig für unausweichlich. Sie nimmt in Kauf, dass die von ihr empfohlene Veränderung „Enttäuschung und Verletzung auslösen wird“. „Dies scheint mir allerdings eher auf seelsorgerlicher Ebene bearbeitet werden zu müssen als auf der Ebene von Kirchengestaltung“, so Pohl-Patalong. Abgesehen davon, dass mir dieses Statement reichlich lieblos vorkommt, ist der bei Umsetzung ihrer Vorstellungen entstehende Schaden absehbar. Aus welchem Personenkreis stammt denn die Masse der Ehrenamtlichen unserer Kirche? Vorrangig wohl aus dem von Pohl-Patalong als Problemfall gekennzeichneten Kreis des traditionellen, kirchennahen Milieus. Und auf die Ehrenamtlichen wird es angesichts des sich schon jetzt abzeichnenden Mangels im Pfarrdienst aber auch in anderen Berufsgruppen mehr denn je ankommen. Hier Frustration in Kauf zu nehmen und strategische Entscheidungen gegen den Willen derer durchzusetzen, die unser kirchliches Leben aktiv gestalten, ist ein schwerer Fehler, der den Abwärtstrend weiter beschleunigen dürfte.
Als Quelle von Frustration stellt sich mit wachsender Intensität die krisenhafte Situation im Pfarrdienst dar. Es ist gar nicht lange her, da gab es einen Überhang an Interessenten für den Pfarrdienst. Junge Theologen wurden nicht gerade liebevoll und solidarisch behandelt. Menschen, die wir heute dringend gebrauchen könnten, wurde damals abgewiesen. Entsprechend nahm die Anzahl der jungen Menschen, die Interesse am Pfarrberuf hatten immer mehr ab. Nachdenklich stimmen müsste eigentlich jedes Kirchenleitungsmitglied, dass bis heute viele Theologische Seminare und Bildungseinrichtungen, die vornehmlich den theologischen Nachwuchs für freie Gemeinden ausbilden, überlaufen sind. Diese Entwicklung gibt es, obwohl Pastoren von freien Gemeinden in der Regel deutlich weniger verdienen, als landeskirchliche Pfarrerinnen und Pfarrer. Gemeindeglieder von landeskirchlichen Gemeinden haben dagegen wachsende Probleme, Ansprechpartner aus dem Kreis der Pfarrerinnen und Pfarrer zu finden, wenn eine Beerdigung, ein Hochzeitsjubiläum oder eine Trauung ansteht.

Frustrierend und zermürbend ist die sich steigernde Mangelsituation im Pfarrdienst nicht zuletzt für die verbliebenden Pfarrerinnen und Pfarrer, deren Seelsorgebezirke tendenziell immer größer werden. In dieser Situation, die euphemistisch mit dem Begriff „Arbeitsverdichtung“ beschrieben wird, gibt es wegen permanenter Umstrukturierungen eine wachsende Flut an Gremiensitzungen, die nicht nur für Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern erst recht für Ehrenamtliche in der Regel wenig erbaulich sind. Als ich 1988 meine erste Pfarrstelle antrat, habe ich mich trotz mancher Herausforderungen wohl gefühlt. Damals war das Berufsprofil eines Pfarrers vergleichbar mit dem eines Freiberuflers, wobei ich starke Presbyterien stets als wichtiges Korrektiv und als Kern einer engagierten Mitarbeiterschaft wahrgenommen habe. Pfarrerinnen und Pfarrer heute befinden sich nicht selten zwischen Baum und Borke: Da gibt es das Presbyterium und die Gemeindeglieder mit Erwartungen und Ansprüchen auf der einen Seite. Daneben greift die Kirchenkreisebene immer stärker in die Arbeit vor Ort ein. Statt einer Spezialisierung, die auf Grund des wachsenden Mangels an Pfarrpersonal auch kaum umsetzbar wäre, werden Gemeindepfarrstellen immer wieder mit kreiskirchlichen Diensten verbunden, was die beschriebene Problematik noch verstärkt. Es müsste eigentlich einleuchten, dass man so den Pfarrberuf nicht attraktiver macht. Statt der gut begründeten Freiheit, die mit dem Pfarramt ursprünglich verbunden war, rücken Pfarrerinnen und Pfarrer in einen wenig erfreulichen Angestelltenstatus, der oft genug durch realitätsferne Anweisungen der Kirchenkreisebene belastet ist.


„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ (2. Kor. 3,17)

In dieser Zeit bräuchten wir eine Kirche, die sich anders präsentiert, als dies seit vielen Jahren der Fall ist. Krisen überlagern sich und überfordern die Menschen – materiell wie mental. Veränderungsprozesse wie die Digitalisierung oder auch die Folgen der Klimakatastrophe lassen Minderheiten zurück. Als wir am Anfang des Jahres 2000 in das Dorf Eichelhardt im nördlichen Westerwald zogen, gab es dort noch 3 Gaststätten, 1 Metzger, 1 Bäcker, 2 Bankfilialen und einen kleinen Raiffeisenmarkt. 1 Bankfiliale, die allerdings nur eingeschränkt öffnet, gibt es noch. Alles andere ist verschwunden. Eichelhardt ist hier ein bedrückendes Beispiel für eine Gesamtentwicklung, die in vielen Dörfern des Westerwaldes zu beklagen ist. In der Kreisstadt Altenkirchen steht das Krankenhaus auf der Kippe. Etliche Einzelhandelsgeschäfte in der Innenstadt haben in den letzten Jahren aufgegeben. In den anderen Mittelzentren des Landkreises wie Betzdorf oder Wissen sieht es ähnlich trostlos aus. Von den Metzgern und Bäckern des Landkreises, die es in den 70-er Jahren noch gab, haben bestenfalls 10% durchgehalten. Diese Entwicklung stellt einen deutlichen Verlust an Lebensqualität dar. Meine Freiheit als Konsument wird eingeschränkt, wenn ich Lebensmittel nur noch bei Diskounter erwerben kann. Einkäufe müssen grundsätzlich, teilweise unter Inkaufnahme längerer Strecken, mit dem PKW erledigt werden. Das kostet, zumal der ÖPNV im Landkreis Altenkirchen wenig zu bieten hat. Da kommunalpolitisch wirksam gegenzusteuern ist auf Grund der prekären Finanzlage vieler Gemeinden, Städte und Landkreise kaum möglich. Zu den Belastungen durch die sich aufeinanderlegenden Krisen gesellt sich wachsender Unmut über die Situation vor Ort – eine gefährliche Melange, durch die populistische und rechtsradikale Positionen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein hoffähig werden. Eine Kirche, die dieser ökonomisch begründeten Bewegung folgt und ihrerseits Gemeindezentren schließt und sich von kirchlichen Gebäuden trennt, gießt Öl ins Feuer. Sie verstärkt Freiheitsverluste und Einschränkungen bei der Lebensqualität der Menschen.

Ein Umdenken ist nötig, dass Abstand nimmt von Rezepten der Vergangenheit, die sich kaum bewährt haben. Es ist höchste Zeit, den Akteuren vor Ort die nötige Freiheit einzuräumen, ihre Situation eigenständig zu gestalten. Es ist auch moralisch geboten, in der evangelischen Kirche Machtkontrolle und Gewaltenteilung zu etablieren, sodass auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Presbyteriumsmitglieder sowie Pfarrerinnen und Pfarrer das Empfinden haben, tatsächlich einer „Kirche der Freiheit“ anzugehören.

 

 

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