Einmal falsch abgebogen! (Teil 1)
Fragwürdige Konzepte gefährden die Zukunft der Volkskirche

Von Hans-Jürgen Volk

Es war kurz nach den Weihnachtstagen im Jahre 2005, als ich Zeit fand, mir die Unterlagen für die Landessynode der rheinischen Kirche anzuschauen. Im Januar 2006 sollte sie stattfinden. Ich stieß auf die Papiere zweier Arbeitsgruppen: einmal zum Dienst- und Arbeitsrecht und dann zur presbyterial-synodalen Ordnung. Bei der Lektüre dieser Dokumente wurde mir buchstäblich übel. Ich nahm ein zuvor in der rheinischen Kirche eher unbekanntes finanzorientiertes Denken wahr, dass meiner Einschätzung nach auf eine schwere Beschädigung der presbyterial-synodalen Ordnung sowie eine fatale Verunsicherung der bei der Kirche Beschäftigten hinauslaufen würde. Kurz. Ich befürchtete Schlimme Schäden für unsere Kirche und ihre Stellung in unserer Gesellschaft.

Im Sommer 2006 legte die EKD ein Impulspapier mit dem Titel „Kirche der Freiheit“ vor. Die Tonlage war optimistischer als in den einfach nur depressiv stimmenden Papieren der rheinischen Arbeitsgruppen. Immerhin wollte man „gegen den Trend wachsen“. Dennoch war das konzeptionelle Denken ganz ähnlich. Es dominierte eine bedenkliche Finanz- und Binnenorientierung. Erstaunlich war dies nicht, war doch die Kommission, die das Impulspapier erstellte hatte, mehrheitlich durch Vertreter der Finanz- und Beraterindustrie besetzt.

Jedenfalls bog damals die Evangelische Kirche in eine gefährliche Richtung ab. „Von der Wirtschaft lernen“ war das Leitwort, dass strukturprägend in den kommenden zwei Jahrzehnten seine Wirkung entfalten sollte. Die Kirche wurde betrachtet und behandelt wie ein Wirtschaftsunternehmen. Es entstand eine toxische Mischung zwischen altpreußischer Behördenmentalität und McKinsey-Rezepten. Das einzige, was gegen den Trend wuchs, waren die Kosten für die kirchliche Verwaltung.


Die Demontage der presbyterial-synodalen Ordnung


Will man ernsthaft bestreiten, dass sich die Evangelische Kirche heute Mitte 2025 in einer deutlich schlechteren Verfassung befindet als vor 20 Jahren? Die Anzahl der Kirchenaustritte, die in den vergangenen Jahren Rekordniveau erreichte und zwischen 300.000 und knapp 500.00 lag, spricht für sich. Der Blick in so manchen Kirchenkreis bietet ein ziemlich trostloses Bild. Die Teilnahme an den Gottesdiensten sinkt auf niedrigem Niveau weiter. Kaum noch jemand strebt ein Theologiestudium mit dem Berufsziel Pfarrer oder Pfarrerin an.

Offensichtlich haben die in „Kirche der Freiheit“ vorgelegten Konzepte, die in der rheinischen Kirche auf der Landessynode 2006 vorweggenommen und in den Folgejahren konkretisiert wurden, keine positive Wirkung gezeigt. Ich nehme eher das Gegenteil wahr! Als Erklärung für dies Erosion der kirchlichen Basis wird die Tendenz zur „Individualisierung“ und „Säkularisierung“ angeführt, wobei man sich hierbei gerne auf Studien aus den 90-er Jahren bezieht. Dass die Fälle sexualisierter Gewalt auch für die Evangelische Kirche ein massives Problem darstellen, wird immerhin anerkannt. Eine Evaluation der seit 2006 durchgeführten strukturellen Umbaumaßnahmen ist dagegen kaum wahrnehmbar.

Worum handelt es sich?

Was unsere Kirche in den vergangen 2 Jahrzehnten am stärksten geprägt hat, sind permanente Sparanstrengungen auf Grund einer negativen Prognostik bei der Finanzentwicklung. Viele Jahre ging man alleine auf Grund der sinkenden Mitgliederzahlen von einem Rückgang des Kirchensteueraufkommens von 1-2% im Jahr aus. Dies wurde beibehalten, obwohl die tatsächliche Entwicklung der Finanzkraft eine völlig andere Faktenlage aufzeigte. Mit dem Basisjahr 2002 sollte sich die Finanzkraft der Kirche bis 2030 halbieren. 2005 musste sich die EKiR mit einem Nettokirchensteueraufkommen von weniger als 500 Mio. € begnügen. Im Jahre 2025 wird mit 745 Mio. € geplant. Schaut man sich die Haushaltsjahre der Vergangenheit an, so wurden die Planzahlen unserer Finanzabteilung meistens durch die tatsächliche Finanzentwicklung deutlich überboten.

Tatsächlich stand die rheinische Kirche Anfang der 2000-er Jahre vor einer großen Herausforderung. Im Blick auf zukünftige Versorgungsleistungen für Pfarrer und Kirchenbeamte war eine besorgniserregende Finanzierungslücke entstanden. Also wurde die Versorgungsumlage dauerhaft erheblich erhöht mit dem Ziel, eine Kapitaldeckung von 70% zu erreichen. Dass mittlerweile auch die Beihilfen für diesen Personenkreis erheblich gestiegen sind, stellt eine weitere Herausforderung dar mit der Folge, dass die entsprechende Umlage (Versorgungslasten und Beihilfen) auf der Landessynode 2025 von 18% auf 23% erhöht wurde.

Spätestens seit 2006 war ein teilweise künstlich erzeugter Finanzalarmismus das wichtigste strategische Instrument, um unsere Kirche grundlegend umzubauen.1

Dies geschah durch folgende Maßnahmen:

Presbyterial-synodale Ordnung: Als ich in den 80-er Jahren meinen Dienst in unserer Kirche antrat, ab 1988 als Gemeindepfarrer, hörte ich immer wieder, dass das Presbyteramt das höchste Amt in unserer Kirche sei. In einem Flyer stellte sich die rheinische Kirche damals als „Kirche auf Gemeindebasis“ vor. Das ist Vergangenheit. Seit Mitte der 2000-er Jahre hieß es, dass synodale Element müsse gegenüber dem presbyterialen gestärkt werden. Presbyterien seien vielfach überfordert. Man wolle sie jetzt entlasten, was im Klartext bedeutete, ihnen wesentliche Kompetenzen zu entziehen. Entsprechend der Programmatik von Kirche der Freiheit sollten Personalplanung und -verwaltung, Finanzverwaltung und Pfarrstellenverteilung von der Kirchenkreisebene übernommen werden. Die Kirchenkreise sollten flächendeckende zentrale Verwaltungsämter erhalten. Teilweise wurde das Gebäudemanagement auf Kirchenkreise übertragen.

Um vorgeblich das Presbyteramt attraktiver zu machen, wurde die Wahlperiode von Presbyterinnen und Presbytern von 8 auf 4 Jahre verkürzt. Dagegen blieb es bei den Wahlen zu den Kreisvorständen oder zur Kirchenleitung bei dem 8-jährigen Rhythmus. Auch hierdurch entstand eine erhebliche Unwucht in unserer presbyterial-synodalen Kirchenverfassung.

Die Kirchenkreise haben also gegenüber den Gemeinden deutlich mehr Kompetenzen gewonnen. Haben sie aber hierdurch einen größeren Gestaltungsspielraum? Während einer Landessynode komme ich ins Gespräch mit einem Superintendenten. „Wir haben mehr Aufgaben zu erledigen, können aber immer weniger entscheiden.“ Mit dieser Aussage, die auch von einem Presbyteriumsmitglied hätte stammen können, wirft er einen kritischen Blick auf die Umbaumaßnahmen in der rheinischen Kirche.

Landessynode und Kirchenleitung: Haben Sie schon mal eine rheinische Landessynode miterlebt? Bemerkenswert ist die freundliche Atmosphäre, man ist nett zueinander – jedenfalls solange, wie man den Vorgaben der Kirchenleitung und den ständigen Ausschüssen folgt. In den ständigen Ausschüssen wird eine Landessynode Monate vor Beginn vorbereitet. Bereits zuvor hat die Kirchenleitung gemeinsam mit dem Landeskirchenamt an entscheidenden Stellen Vorarbeit geleistet. Meistens kurz vor Weihnachten erhalten die Synodalen ein kiloschweres Paket mit Beschlussvorlagen und Materialien. Ein Großteil dieser Dokumente wird dann auch im Internet veröffentlicht. Da Ausschussmitglieder und Mitglieder von Leitungsgremien zur Vertraulichkeit verpflichtet sind, besteht kaum noch eine Möglichkeit, von außen auf Beschlüsse der Landessynode Einfluss zu nehmen. Insgesamt funktioniert die Landessynode in etwa wie ein Parteitag einer Regierungspartei. Die seltsam euphorische Stimmung auf der Landessynode 2025, die im krassen Gegensatz zur tatsächlichen Situation unserer Kirche steht, ist ein bedrückender Beleg hierfür.

Das Präsidium der Landessynode wird durch die Kirchenleitung gebildet. Außerdem nimmt die Kirchenleitung in großem Umfang durch sogenannte Notverordnungen judikative Funktion war. Ein Beispiel sind die Pfarrstellenverteilungsrichtlinien von 2008, die eine erhebliche Veränderung für den Pfarrberuf mit sich brachten. Von Machtkontrolle und Gewaltenteilung kann keine Rede sein. Im Gegenteil: der mächtige Vizepräsident Dr. Johann Weusmann veröffentlichte vor einigen Jahren einen Beitrag, indem er der Forderung nach einer Gewaltenteilung im kirchlichen Raum mit überwiegend theologischen Argumenten eine Absage erteilte. Die Diskussion war aufgekommen durch entsprechende Vorschläge der Höppner-Kommission. Damals hatte das mit der rheinischen Kirche verbundene Beihilfe- und Bezüge-Zentrum Bad Dürkheim Millionenbeträge unter den Augen des von Kirchenleitungsmitglieder bestückten Aufsichtsrats versenkt.2

Fazit: Je höher die Positionen, desto größer scheint die Empfindlichkeit bei kritischen Anfragen sowie die Angst vor Veränderung zu sein.
 

Und die EKD …
 

Tatsächlich vereint eine Kirchenleitung der rheinischen Kirche exekutive, legislative wie auch judikative Kompetenzen in ihrem Handeln. Dies bringt sie gegenüber der Landessynode, den Kirchenkreisen und Gemeinden in eine dominante Position.

Noch bedeutender und noch weniger transparent ist jedoch der Einfluss der EKD auf die evangelischen Landeskirchen. Vom Impulspapier „Kirche der Freiheit“ wurde behauptet, es handele sich ja nur um Anregungen. Tatsächlich wurde jedoch die Programmatik dieser Schrift in den meisten Landeskirchen mit geringfügigen Modifikationen umgesetzt.

Neben dem Rat der EKD sind die eigentlichen Machtzentren der Finanzbeirat sowie die Kirchenkonferenz.

Am bedenklichsten für ein gedeihliche Entwicklung des kirchlichen Lebens wirkte sich die Vorstellung aus, dass die EKD mit ihren Gliedkirchen wie ein Großunternehmen zu leiten sei. Hierzu passt, dass die EKD maßgeblichen Einfluss auf die Einführung des „neuen kirchlichen Finanzwesens“ (NKF) in den meisten Gliedkirchen nahm. Die kamerale Finanzverwaltung sollte durch die Doppik abgelöst werden. Eigentlich hätte man dagegen nichts einwenden können. Kirchliche Pflegedienste sowie andere Arbeitsfelder der Diakonie werden seit Jahrzehnten nach den Regeln der Doppik auf gedeihliche Weise betrieben. Hätte man dieses Projekt klug und effizient angegangen, wäre es möglicherweise tatsächlich ein Gewinn für unsere Kirche geworden. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Es entstand ein extrem bürokratisches System, das die Kosten für die Finanzverwaltungen massiv in die Höhe trieb.

Vor etlichen Jahren setzte die EKD unter dem Namen „erweiterter Solidarpakt“ strikte Finanzregeln in die Welt. Die Landeskirchen wurden genötigt, Beihilfe- und Versorgungsansprüche von Pfarrern und Kirchenbeamten zu einem Prozentsatz von mindestens 70% kapitalgedeckt abzusichern. Viele Landeskirchen nahmen diese Vorgaben einfach als gegeben hin, ohne dass das Regelwerk auf Landessynoden diskutiert oder auch nur vorgestellt worden wäre.

Man wird nicht bestreiten können, dass die wesentlichen Impulse, die die Umbaumaßnahmen in den meisten Landeskirchen zur Folge hatten, von Seiten der EKD kamen. Erkennbar haben sich die in „Kirche der Freiheit“ vorgeschlagenen Maßnahmen nicht bewährt. Sie konnten den Abwärtstrend der Evangelischen Kirche nicht stoppen. Aus meiner Sicht haben sie ihn zum großen Teil mitverursacht.

„Harte Entscheidungen – schmerzliche Abschiede“

Eigentlich müsste im Arbeitszimmer eines jeden kirchlichen Verantwortungsträgers eine Tafel mit der Aufschrift hängen: „Du sollst deine Mitglieder nicht frustrieren!“ Das Gegenteil geschieht bis heute. Unisono stimmen Kirchenräte, Superintendentinnen und Landesbischöfe einen dumpf-schrillen Chor an, der von „harten Entscheidungen und schmerzlichen Abschieden“ kündet und der an einen endzeitlichen Hymnus aus den „Carmina Burana“ erinnert. Seit über 20 Jahr erklingt dies gruselige Lied in immer neuen, oft verschärften Varianten.

Als Erfolg wird verkündet, wenn Gemeinden oder Kirchenkreise, die oft seit der Reformationszeit eigenständig existieren, fusioniert werden. Dies geschieht oft in extremer Weise: ländliche Flächenkirchenkreise oder großstädtische Regionen werden mitunter zu Kirchengemeinden. Die Folge ist, dass die Schnittstellen für personal Kontakte immer mehr reduziert und Entscheidungen zunehmend aus der Vogelperspektive getroffen werden – oft mit verhängnisvollen Folgen für das kirchliche Leben vor Ort. Nicht selten leiteten derartige Fusionsprozesse nichts anderes als die Abwicklung von lebendigem Gemeindeleben ein. Auch hier stand neben der Illusion, man könne durch derartige Prozesse die Qualität der kirchlichen Angebote erhöhen, das fiskalische Argument im Vordergrund. Durch die Reduzierung der Anzahl der Mandanten wollte man Verwaltungskosten sparen. Unerfreulich war nur, dass diese Erwartung in den seltensten Fällen nachhaltig eingelöst wurde. Oft stiegen die Verwaltungskosten auch nach derartigen Fusionsprozessen spürbar.

Mit einer ähnlichen Motivation soll der kirchliche Gebäudebestand reduziert werden. Die rheinische Kirche verknüpft dies mit der Absicht, in absehbarer Zeit klimaneutral zu sein. Hier wird vielleicht am deutlichsten, wie sehr der Ansatz, die Kirche wie ein Großunternehmen zu leiten, Schaden verursacht. Von den Kirchenkreisen soll ein Gebäudekonzept erstellt werden. Signifikante Investitionen sind lediglich bei den Gebäuden statthaft, die man dauerhaft erhalten will. Dies führt dazu, dass reihenweise relativ marode Gebäude verkauft werden, wovon das Klima nun gar nicht hat. Bedenklich ist daneben der Eingriff in die Rechte der Presbyterien. In ländlichen Kirchenkreisen ist es absehbar, dass Gemeindehäuser und Kirchen in den Mittelzentren erhalten bleiben, die Dorfgemeinden allerdings vielfach das Gemeindehaus verlieren dürften. Dies beschädigt die kirchliche Bindungskraft einmal mehr. Es ist zudem strukturpolitisch verhängnisvoll.

Fazit: Es ist nicht gut, wenn man den eigenen Mitgliedern seit Jahrzehnten harte Entscheidungen und schmerzliche Abschiede zumutet. Immer wieder habe ich in den letzten Jahren Gespräche mit Menschen geführt, die aus der Kirche ausgetreten sind. Oft wurde ich mit dem kaum widerlegbaren Argument konfrontiert: „Jahr für Jahr zahle ich mit steigender Tendenz Kirchensteuer und habe davon vor Ort immer weniger.“

Es war ein Fehler, eine Kirche so zu behandeln wie ein Großunternehmen. Wenn Siemens, Thyssen-Krupp oder VW Stellen abbauen oder gar Werke schließen, ist dies aus betriebswirtschaftlichen Gründen in der Regel nachvollziehbar. Eine Kirche kann nicht so agieren, ohne in einen Weg der Selbstdemontage zu geraten. Bisher erzeugt das Programm von „Kirche der Freiheit“ immer längere Wege auf Grund von Fusionen. Gerade wenig mobile Kinder und Senioren geraten so aus dem Blick. Distanzen werden zu Barrieren. So trägt eine Kirche verstärkend bei zu jener Tendenz zur Individualisierung, die sie selbst als externen Grund für ihren Niedergang ausmacht. Schlimmer noch: die gedehnten Strukturen, die so entstehen, führen gerade bei den Schwächsten zur Vereinzelung und zur Vereinsamung.

Um das Jahr 2006 ist unsere Kirche falsch abgebogen, indem man undifferenziert „von der Wirtschaft lernen“ wollte und die eigene Institution als zentral geführtes Unternehmen definierte. Spätere Generationen werden sich mutmaßlich wundern, mit welcher Beharrlichkeit Kirchenleitungen und Synoden an diesem selbstzerstörerischen Weg festhielt. Es wird Zeit, mit einem Wiederaufbau zu beginnen, was nur vor Ort geschehen kann.

 

1 Es soll hier nicht bestritten werden, dass die rheinische Kirche im Blick auf die Beihilfe- und Versorgungslasten vor Herausforderungen stand und immer noch steht. Eine monokausale Beziehung zwischen Mitgliederentwicklung und Finanzkraft zu behaupten, ist allerdings unseriös. Dies wird durch die positive Finanzentwicklung trotz negativer Mitgliederentwicklung der rheinischen Kirche in der Vergangenheit widerlegt.

2 In mehreren Beiträgen habe ich die Hintergründe dieses Finanzskandals auf den „Zwischenrufen“ dargestellt.

 

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