Nach dem Kuss nun der Rock – Irritationen für einen Protestanten

Klaus Matthes

Die Entrüstung über den Bruderkuss zwischen dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) – Präses Nikolaus Schneider – und dem Bischof von Rom – Papst Benedikt XVI – war schon fast aus der Seele des Protestanten gewichen, da trifft ihn die nächste Welle.

Ein Treffen ohne Folgen war die Begegnung im Augustinerkloster in Erfurt im September 2011. Der Bischof von Rom hatte Martin Luther als „Gottsucher“ und dessen Maßstab „was Christus treibet“ zur Schriftauslegung gewürdigt. Allerdings tat er es unverbindlich im Blick auf sein eigenes Kirchen- und Amtsverständnis. Ansonsten hat er charmant auf Fragen geantwortet, die niemand gestellt hat. Und eine Empfehlung hat er noch ausgesprochen: Die Christen sollten sich „gegenseitig helfen: tiefer und lebendiger zu glauben“. Warum dies mit dem urchristlichen Bruderkuss bedacht werden musste, hat meine protestantische Seele nicht verstanden.

Aber die Entrüstung war fast gewichen, da kommt zwei Monate später die nächste Welle:
„Christus im Mittelpunkt, nicht der Rock: Protestanten gehen die Wallfahrt mit“, titelt eine Pressemitteilung der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) vom 28.11.2011. Es geht um die Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier. So setzt also die Kirchenleitung der EKiR die Empfehlung des Bischofs von Rom um, sich gegenseitig helfen, tiefer und lebendiger zu glauben. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie oft sich mein Konfirmator, Pfarrer Börner aus Bad Neuenahr, den wir als Schüler „furor protestanticus“ nannten, im Grabe umdreht bei dieser Meldung. Von ihm habe ich Luthers Wort von der „Bescheißerei zu Trier“ wohl zum ersten Mal in den fünfziger Jahren gehört. Wahrscheinlich würde selbst er heute so nicht mehr von dieser Reliquie sprechen. Aber eine Wallfahrt zu und um diesen umstrittenen Stoff, darf das nicht getrost eine römische Angelegenheit bleiben? Reicht es da nicht, wenn wir Protestanten die Schwestern und Brüder in Frieden wallfahren lassen – ohne Ironie und Parodien? Was in aller Welt sollen wir evangelischen rheinischen Christenmenschen dort?

Dass sie nicht ohne weiteres mit wallfahren werden, wissen auch Kirchenleitung und Ökumene-Oberkirchenrätin Rudolph und kündigen eine Orientierungshilfe für rheinische Gemeinden bis zur Landessynode im Januar 2012 an. Vorerst reicht ihr und der Kirchenleitung der Hinweis auf die Tradition, dass das ungeteilte Gewand Jesu ein Zeichen für die eine ungeteilte Kirche sei. Als Symbol, als Ikone biete der heilige Rock heute eine Chance, „den einen Herrn der Kirche, Jesus Christus, als die gemeinsame Mitte neu zu feiern“. Es geht der Kirchenleitung also um das „gemeinsam Zeugnis geben“. Wie das „gemeinsam“ geschehen kann – in einer traditionell römisch-katholischen Form einer Wallfahrt und in einer seit Jahrhunderten belasteten Gestalt, muss die Ökumene-Oberkirchenrätin wohl noch deutlicher machen, bevor meine protestantische Seele wieder zur Ruhe kommt. „Gemeinsam Zeugnis ablegen“ - hat das nicht etwas zu tun mit Augenhöhe? Ist die gewährleistet, selbst wenn einige rheinische Protestanten mit Präses und Oberkirchenrätin an der Spitze ein Stück mit wallfahren? Gemeinsam Zeugnis ablegen – da fallen mir deutlichere Gelegenheiten ein:. Ein ökumenischer Gottesdienst am Sonntagmorgen oder eucharistische Gastfreundschaft. Aber so tief und lebendig hat der Bischof von Rom das gegenseitige Helfen beim Glauben nicht gemeint oder gar erlaubt. So bleibt meine protestantische Seele entrüstet.

Auch die Erinnerung an den verstorbenen Präses Peter Beier, der 1996 als erster rheinischer Präses an der damaligen Heilig-Rock-Wallfahrt teilnimmt und dafür ein Wallfahrtslied schreibt:
„Wir wichen aus, Dein Wort hält stand“, bringt dieser protestantischen Seele keine Ruhe. Denn ihr fällt zugleich ein, dass Präses Beier die evangelische Beteiligung an der katholischen Wallfahrt verbindet mit dem Vorhaben einer „Ökumenischen Versammlung“ mit den katholischen Diözesen im Bereich der EKiR im Jahr 2000. Diese Versammlung hat nicht es nicht gegeben. Die rheinische Ökumene-Oberkirchenrätin verbindet die diesjährige evangelische Beteiligung an der Wallfahrt mit der Einladung an die katholischen Partner, das Reformationsjubiläum 2017 „ökumenisch“ zu feiern. Woher nimmt sie die Hoffnung, dass diese Einladung nicht genauso endet wie Peter Beiers Traum einer Ökumenischen Versammlung?
Meine protestantische Seele hat da ihre Zweifel

Und es bleibt ihr auch nichts erspart. Kurz vor Weihnachten gibt es elektronische Post vom Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar. Darin ein Flyer: Der Heilige Rock. Pilgerweg nach Trier vom 2.-5.Mai 2012 . Als Träger des Pilgerweges zeichnen ua das genannte Ökumenische Netz und Pax Christi im Bistum Trier.
Nun sind auch die linken, fortschrittlichen und befreiungstheologischen Christenmenschen vom Heiligen Rock infiziert, trauert meine protestantische Seele. Aber beim aufmerksamen Lesen des Flyers beruhigt sie sich und hat ein Aha-Erlebnis. So kreativ können Christenmenschen mit einer alten, fragwürdigen Tradition umgehen!

Das ungeteilte Gewand Jesu interpretieren sie nicht als Zeichen für die eine ungeteilte Kirche, die die Hierarchien der großen Kirchen in Deutschland seit Jahren auf Sparflamme halten, sondern sehen in dem ungeteilten Gewand Jesu nach Joh. 19,23 ein Zeichen der Solidarität im Widerstand gegen die Weltordnung.

„Dieses Gewand macht als Symbol deutlich, worum es dem Johannesevangelium geht:

Es steht für die Solidarität zwischen dem Vater und dem Sohn, zwischen dem Gott Israels und seinem Messias. Sie kann nicht zerrissen, nicht geteilt und darum nicht zerstört werden. Der Messias geht solidarisch mit dem Gott Israels den Weg der Konfrontation mit der römischen Weltordnung bis in den Tod am Kreuz der Römer. Der Gott Israels hält seinem Messias die Treue. Im Namen des Gesetzes der Weltordnung war der Messias Jesus hingerichtet worden, Gott aber hat ihm Recht gegeben, ihn als Zeichen des Widerstands gegen die Weltordnung aufgerichtet. In der Kraft dieser Solidarität, die zum Gericht über Weltordnung (Joh 16,11) wird, soll die messianische Gemeinde solidarisch zusammenbleiben und der Weltordnung widerstehen.
In Erinnerung an den Heiligen Rock als Zeichen der Solidarität im Widerstand gegen die Weltordnung setzen wir uns auf unserem Pilgerweg kritisch mit der Weltordnung auseinander, unter der die Menschen heute leiden und sterben. Wir fragen nach den Zwangsjacken, den 'Uniformen', in die Menschen gesteckt werden, und der befreienden Kraft des Gewandes Christi. Daran orientieren sich die Schwerpunktthemen der einzelnen Tage“.

So wollen Christenmenschen vom 2.-5. Mai von Koblenz nach Trier pilgern. Da freut sich meine protestantische Seele und kann sich in diesem Sinn einen Pilgerweg nach Trier als sinnvoll vorstellen. „Diese Wallfahrt ist eine authentische Form des Glaubens, zu der auch ich als evangelischer Christ einen unmittelbaren Zugang habe“, bemerkt Präses Nikolaus Schneider nicht zu diesem Pilgerweg, sondern zur offiziellen Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier. Aber vielleicht motiviert der Flyer zum Pilgerweg ihn und die Ökumene-Oberkirchenrätin, sich (auch) an ihm zu beteiligen.

Für alle, die diese Interpretation der Stelle aus dem Johannesevangelium und des ungeteilten Gewandes Jesu für gewagt oder für falsch halten, und für alle, die sich Zeit nehmen wollen für eine spannende Lektüre, seien hingewiesen auf zwei Texte, die diese Christenmenschen als Hintergrund für den Pilgerweg erarbeitet haben:

1. „Und erinnere, was zerstört wurde“. Das Jahr 1512 – 500 Jahre
Heilig-Rock-Wallfahrt und Lateinamerika

Der Heilige Rock, ein Gewebe und Alltagsgegenstand, bedeckt die Nacktheit und schafft Würde und Schutz für den Träger oder die Trägerin. Der einfache Faden, aus dem das Kleidungsstück entstanden ist, weist uns den Weg zu Einfachheit und Schlichtheit. Ohne Schnörkel und Schmuck ist dieses Textil das Kleid der Armen seiner Zeit gewesen.
Heute weist er uns gegen jede Art der Erstarrung unseres Lebens- und Glaubensstils auf das Leben der Armen hin: hier bei uns wie auch weltweit.
(Werner Huffer-Kilian)

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2. „Inklusion statt Exklusion. 'Und führe zusammen, was getrennt ist'“

Vor diesen politischen und theologischen Hintergründen kann sich erschließen, wofür das Symbol des ‚Heiligen Rocks’ steht. Drei Facetten seien genannt:

1. Der ‚Heilige Rock’ ist Symbol der Rettung und Befreiung. Er ist gerettet vor der zerstörenden Macht des Imperiums, die nach der Devise ‚Teile und herrsche!’ funktioniert. Der Leibrock Jesu aber bleibt unzerteilt. Er ist der Macht Rom entzogen. Und so steht er für seinen Träger, den Messias Jesus. Ihn hat der Gott Israels vor der Macht Roms gerettet und so deutlich gemacht, dass Macht und Gewalt nicht das letzte Wort in der Geschichte haben.

2. Der Leibrock Jesu steht für das, was aus der vernichtenden Macht des Imperiums rettet: die Kraft der Solidarität. Von ihm heißt es ja, er sei „von oben her ganz durchwebt und ohne Naht“ (Joh 19,23). ‚Nahtlos’ ist Jesu Solidarität mit dem Vater, mit Israels Gott, der sein Volk befeit, ‚nahtlos’ ist Gottes Solidarität mit dem gekreuzigten Messias. Vor solch ‚nahtloser’ Solidarität muss das Imperium kapitulieren. Und so wird die Weltordnung auf den Kopf gestellt. Im römischen Kaiserkult werden der Kaiser und sein Imperiums verherrlicht. Die Herrlichkeit Gottes aber zeigt sich in diesem gekreuzigten Messias und Gottes Solidarität mit ihm. Als ‚Herr und Gott’ ließ sich der Kaiser verehren. Thomas aber spricht das, was im römischen Kaiserkult als dem Kaiser zugesprochen wurde, dem Gekreuzigten, den er an seinen Wunden erkennt, zu: „Mein Herr und mein Gott! (Joh 20,28)

3. Der ‚Heilige Rock’ steht für Jesu Ermutigung an die Jüngerinnen und Jünger: „Bleibt in meiner Liebe. Oder genauer übersetzt: „Bleibt in meiner Solidarität!“ (Joh 15,9). Wie Jesus ‚nahtlos’ mit dem Vater solidarisch ist und von der Solidarität des Vaters lebt, so sollen Jesu Jüngerinnen und Jünger getragen von dieser ‚nahtlosen’ Solidarität, solidarisch miteinander Jesu Weg gehen. So wird der ‚Heilige Rock’ als Zeichen der ‚nahtlosen’ Solidarität zwischen Vater und Sohn zugleich zu einem Zeichen rettender Solidarität der Jüngerinnen und Jünger untereinander und mit allen von den Weltordnungen Ausgeschlossenen und Gedemütigten.

4. Eine Kirche im ‚Heiligen Rock’?
Wer getauft ist, hat die alten Kleider ab- und das Gewand Christi angelegt. Dies wird im Taufkleid deutlich. Wir dürfen es als das ‚Gewand Christi’, den ‚Heiligen Rock’ verstehen. Dann aber käme es für die Kirche nicht in erster Linie darauf an, den ‚Heiligen Rock’ als Reliquie zu verehren, sondern den ‚Heiligen Rock’ zu tragen, ihn als Zeichen dafür anzulegen, dass sie nach Wegen rettender Solidarität sucht.
(Heribert Böttcher)

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Am 9. Januar 2012 auf der Landessynode der EKiR lädt Präses Schneider die evangelischen Christenmenschen erneut ein, an der Heilig-Rock-Wallfahrt teilzunehmen. Den Pilgerweg erwähnt er nicht, schließt ihn aber auch nicht aus. Auch am Optimismus, dass die Einladung an die katholischen Schwestern und Brüder zum gemeinsamen Feiern des Reformationsjubiläums angenommen wird, hält er fest trotz der Erfahrung mit dem Scheitern der Ökumenischen Versammlung 2000. Sein Optimismus verdient schon Bewunderung, wenn er im Blick auf den Papstbesuch im Präsesbericht erklärt: „Der Papst hat …. keine neuen Fenster für konkrete ökumenische Schritte und Vereinbarungen geöffnet. Aber er hat auch keine geöffneten Fenster geschlossen“. So redet er eine verfahrene, stagnierende und rückwärtsgewandte ökumenische Situation schön. An der Stelle möchte sich meine protestantische Seele nichts vormachen und bei der Realität bleiben. Im Bild: Sie wird weiterhin der Trierer Reliquie den Rücken kehren und das nicht nur anlässlich eine Taufgedächnisgottesdienstes in Trier.

 

 

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